Fotografie als Kunst

Selbstporträt.

Heinrich Kühn ist ein Pionier der Fotografie als Kunst. Viele seiner Bilder sind von Malerei kaum zu unterscheiden. Um die Maltechnik der Gemälde möglichst echt nachahmen zu können, experimentierte er mit Papier und Druckverfahren.

Schon relativ früh war der ausgebildete Arzt gesundheitlich so beeinträchtigt, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Das gab ihm die Möglichkeit, sich ganz seinem Hobby zu widmen. Zur damaligen Zeit hatte die Fotografie noch ein Schmuddel-Image. Niemand traute der damals ganz modernen Technik zu, ernstzunehmende Kunst produzieren zu können. Heinrich Kühn hat in unzähligen Versuchen das Gegenteil bewiesen.

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Foto: Porträt Heinrich Kühn

Multimedia-Ausstellungen

Sowohl Artplay Media als auch das Google Cultural Institute haben Multimedia-Ausstellungen zu bekannten Gemälden entwickelt. Artplay Media animiert in Berlin Szenen aus Hieronymus Boschs berühmten Gemälden. Die Ausstellung Bosch. Visions Alive lässt die berühmten grotestk-fantastischen Bildwelten  lebendig werden und bringt sie dem Publikum zum Greifen nahe. Im Museum of Fine Arts in Brüssel werden in Zusammenarbeit mit dem Google Cultural Institute die Werke von Pieter Breugel d.Ä. in brillanten Farben sichtbar. Viele oft übersehene Details können hier extrem vergrößert und in beeindruckender Qualität studiert werden.

Ausführliche Besprechung bei portalkunstgeschichte.de

Placebo-Effekte

Mit „Placebo-Effekte. Heilende Zeichen, toxische Texte, ansteckende Informationen“ ist Martin Andree ein spannendes und gut lesbares Buch gelungen. Der Autor zeigt, wie stark etwa die Wirkung eines zuversichtlichen Arztes, die Farbe einer Tablette oder die Qualität versprechende Marke des verabreichten Medikaments auf den Patienten sein kann. Offenbar kann ein Placebo unter Umständen sogar eine ähnlich stark schmerzstillende Wirkung hervorrufen wie Morphium.

Schamanismus und Doping-Mittel 

Buchcover Placebo-EffekteEine besondere Stellung im Heilungsprozess nimmt für Martin Andree das Ritual des Arztbesuchs und die Behandlungs-Performance insgesamt ein. Anschaulich beschreibt er, dass eine moderne ärztliche Behandlung immer noch Grundzüge des Schamanismus in sich trägt und der Kontakt zum Arzt sogar mit der Wirkung einer Droge vergleichbar sein kann.

Dazu begibt sich der Autor auf die Suche nach den Ursprüngen der Heilkunst. Er weiß von einigen recht abenteuerlichen Praktiken zu berichten, die eher an eine Zauber-Show als an einen Arztbesuch erinnern. Für die Gegenwart lässt sich etwa die Musik als Doping-Mittel neu entdecken oder der Grund, warum Superfood in bestimmten Fällen sogar tatsächlich gesundheitsfördernd sein kann.

Positive und negative Erwartungen

Das Gegenteil des Placebo- ist der Nocebo-Effekt. Gemeint sind damit Faktoren, die eine Krankheit oder körperliche Beeinträchtigung erwarten lassen. Als Beispiel führt Martin Andree eine Schulklasse an, die vermutete, dass jemand heimlich hochprozentigen Alkohol in die Getränke gemischt hatte. Im Krankenhaus stellte sich heraus, dass die Mehrheit der Schüler gar nicht mit Alkohol in Berührung gekommen war. Dennoch waren die Symptome nicht vorgetäuscht. Offenbar genügte die Erwartung, dass es so sein muss, um die Schüler tatsächlich krank zu machen. Ähnliche Wirkungen können laut Martin Andree auch entsprechende Meldungen in den Massenmedien auslösen.

Ich kann das Buch wirklich jedem empfehlen!

Insgesamt ist „Placebo-Effekte. Heilende Zeichen, toxische Texte, ansteckende Informationen“ ein verständlich geschriebenes Buch, das viele spannende und teilweise überraschende Anregungen bietet. Sie reichen von Tipps, mit denen sich die sportliche Leistungsfähigkeit positiv beeinflussen lassen kann über die Effekte der Werbung bis hin zu Techniken, mit denen sich durch „positives Denken“ mehr Wohlbefinden im Alltag herstellen lässt. Und natürlich sieht man seinen Arzt und dessen Behandlungsmethoden nach der Lektüre des Buches in einem ganz neuen Licht

Zu den Details:

Beeindruckend gut ist Martin Andree eine interdiszinplinäre Herangehensweise an das Thema gelungen. Mit seinem gut verständlichen und kenntnisreichen Text liefert er sicherlich für Interessierte mit ganz unterschiedlichem Kenntnisstand einen guten Einstieg in das Thema. Eine bemerkenswert lange und auch aus geisteswissenschaftlicher Sicht gut sortiere Liste verwendeter Literatur befindet sich im Anhang des Buches.

Sprache und die Illusion von Kontrolle

Dennoch bin ich über ein paar Details gestolpert. Auf den Seiten 173 und 174 beschäftigt sich Martin Andree mit einem Auszug aus „Arbeit am Mythos“ von Hans Blumenberg und beschreibt die „Illusionen von Kontrolle“, die aus seiner Sicht eine große Ähnlichkeiten mit den Wirkungen des Placebo-Effekts aufweise. Dem stimme ich grundsätzlich zu, aber aus meiner Sicht geht es in dem Text um weit mehr.

Wichtigstes Moment bei der Erzeugung eines Gefühls von Vertrautheit ist die Sprache. Es ist die Kommunikation über das, was als potentiell bedrohlich empfunden wird, die beim Subjekt Erleichterung auslöst: „Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher heraus gehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat“ (AaM, S. 12).

Würde man diesen Vorgang auf den Arztbesuch übertragen, dann wäre sicherlich bereits das Gespräch über die Krankheitssymptome ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Genesung. Das „Erkennen“ der Angst und Unwohlsein hervorrufenden Faktoren durch den Arzt würde demnach bereits Grund zur Hoffnung auf Heilung zu geben. Vermutlich auch dann, wenn die Diagnose zunächst noch nicht eindeutig ist.

Unterschiedliche Narrative

Wenn das Buch von Martin Andree eine Schwäche hat, dann ist es die, dass es in „Placebo-Effekte“ zu wenig um die Wirkung von Worten geht. Beispielweise entsteht in dem Text oft der Eindruck, es gäbe nur ein einziges Narrativ, das sich für alle Patienten des Arztes voraus setzen ließe. Davon ist leider nicht unbedingt auszugehen.

Sicherlich gibt es bestimmte Erwartungen, die die meisten Patienten an einen Arztbesuch haben. Aber sie variieren womöglich schon von Region zu Region. Erst recht kompliziert wird die Verständigung zwischen Arzt und Patient, wenn der Kranke eine andere Sprache spricht oder aus einem völlig anderen Kulturkreis stammt.

Auch in Hinblick auf Nachrichten, TV, Werbung, Musik, Film usw. bleibt unklar, was sich heute als eine Art „Allgemeinwissen“ voraussetzen lässt. Jeder kann seinen Medienkonsum nach eigenen Interessen selbst gestalten kann und sich „nur“ über die Themen informieren, die ihn unbedingt interessieren. Die Kenntnis bestimmter Nachrichten und Themen aus den Massenmedien kann also nicht bei jedem vorausgesetzt werden.

Probleme bei der Kommunikation

Es gibt also durchaus eine ganze Reihe von guten Gründen, warum es nicht „funktioniert“ zwischen Arzt und Patient. Auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht trägt jegliche menschliche Kommunikation etwas unbeherrschbares in sich. Folgt man etwa Walter Benjamin, dann handelt es sich dabei um die „Magie“ oder die „Unendlichkeit“ der Sprache. Jacques Lacan etwa verweist ausdrücklich mit Saussure auf das „Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten“ als einen Bereich, der durch das Unbewusste dominiert wird.

Bei Ernst Mach erweisen sich Schwierigkeiten in der Kommunikation als weit mehr als ein rein sprachliches Problem. In „Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Phsychischen“ legt er dar, wie sehr Menschen in ihrem eigenen Wahrnehmungsapparat gefangen sind. Eine Wahrnehmung der Welt außerhalb der eigenen Sinneseindrücke bleibt den Menschen versperrt. Das betrifft auch Wissenschaftler, die sich bei ihren Forschungen um größtmögliche Objektivität bemühen.

Eine Volksmedizin?

Auch in Hinblick auf den Katharsis-Effekt wäre aus meiner Sicht eine Berücksichtigung weiterer Aspekte interessant. Nicht nur Aristoteles sah in dem kathartischen Effekt eine Möglichkeit zur moralischen Erziehung der Zuschauer, der vielleicht sogar das Potential einer Volksmedizin in sich trägt. Auch Lessing erwartete konkret eine Erziehung des Zuschauers durch die Tragödie zu mehr Empathie, Schiller hoffte auf eine „Veredeldung des Charakters“ der Bevölkerung durch die Beschäftigung mit den schönen Künsten.

Adorno/Horkheimer hingegen haben in „Dialektitk der Aufklärung“ untersucht, wie die Kunst oder generell jedes Thema unter dem Diktat eines totalitären Regimes zu einem Manipulationsinstrument für die Massen gemacht wird. Für Adorno/Horkheimer bedeutet, gut gelaunt zu sein, einverstanden zu sein und so werden die Massenmedien hier zu einer Art Antidepressivum für die Bevölkerung.

Einfach nur weg

Die zwölf Jugendlichen sind alle minderjährig und ohne ihre Eltern nach Deutschland gekommen. Sie haben ihre Heimat in Afghanistan, Syrien oder Afrika aus guten Gründen verlassen. Ausführlich haben sie darüber mit der Journalistin und stellvertretenden Direktorin der DW Akademie, Ute Schaeffer, gesprochen.

Gründe für die Flucht

Ali konnte nicht mehr in Sierra Leone bleiben, nachdem seine Mutter an Ebola gestorben ist. Freunde und Bekannte haben ihn danach plötzlich gemieden, zu groß war die Angst, ebenfalls zu erkranken. Yaminas  Vater arbeitete in Guinea als Bezirksbürgermeister. Eines Nachts sind ihre Eltern von uniformierten Männern ermordet worden. Kurz darauf starb auch ihre Schwester an den Folgen einer Vergewaltigung. Seitdem fühlte Yamina sich in ihrer Heimat nicht mehr sicher. Mohammed musste in Syrien mit ansehen, wie seine Tante ermordet wurde. Er selbst hat auf der Flucht in ein Flüchtlingslager einen Streifschuss überlebt. Jetzt wird Mohammed wie die anderen minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland psychologisch betreut.

Intensive Auseinandersetzung

Die Autorin ist eine einfühlsame und aufmerksame Beobachterin. Sie “leiht” dem Leser ihre Augen, indem sie die Berichte der Kinder durch Hintergrundinformationen zur politischen Lage ergänzt und einordnen hilft. Außerdem macht sie deutlich, wann sie an der Darstellung eines der Jugendlichen zweifelt und welche Gründe es geben könnte, an dieser Stelle zu lügen. Doch trotz zeitweiliger Skepsis bleibt sie immer auf der Seite der Jugendlichen und vertritt deren Anliegen so konsequent wie eine Anwältin. Damit tut sie aus ihrer Sicht das, was unser Asylrecht eigentlich vorsieht und womit die zuständigen Ämter oft überfordert sind.

Für eine Bleibeperspektive

Ute Schaeffer beschreibt außerdem ausführlich, welch enorme Fortschritte die Jugendlichen hier in Deutschland machen. Damit liefert sie die beste Begründung für ihre Forderung, dass es eine Zuwanderungspolitik geben sollte, deren Ziel auch eine dauerhafte Bleibepersektive in Deutschland sein kann. “Die bis zu eine Million Flüchtlinge im Jahr 2015 und die, die noch kommen werden, sollten uns endlich davon überzeugen, dass es eine Zuwanderungspolitik braucht, die über alle Ebenen funktioniert und transparent ist”, schreibt die Autorin im Fazit des Buch.

Einfach nur weg. Die Flucht der Kinder von Ute Schaeffer beinhaltet neben den Interviews mehrere Texte und Interviews zum Thema Flucht, darunter ein Interview mit Henric Maes, dem Diözesengeschäftsführer des Malteser-Hilfdienstes Berlin. Die Malteser sind einer von mehreren Wohlfahrtsverbänden, die Einrichtungen für minderjährige Flüchtlinge in Deutschland unterhalten. Das Buch ist übrigens sehr verständlich formuliert und deswegen aus meiner Sicht auch eine Leseempfehlung für Jugendliche.

Essen

Essen ist mehr als nur tägliche Nahrungsaufnahme. Es ist ein tägliches Ritual, das in seinem Wert für den Betreffenden selbst und sein Umfeld kaum zu unterschätzen ist. Denn der „Mensch ist, was er isst“, wie es der Philosoph Ludwig Feuerbach Mitte des 19. Jahrhundert erstmals formulierte. Und das bedeutet: Alles, was wir essen, wird durch Stoffwechselprozesse zu einem Teil unseres Körpers. 

Buchcover "Über das Essen"Harald Lemke zeichnet in „Über das Essen“ unsere Haltung zur Nahrungsaufnahme und den damit verwandten Tätigkeiten wie Kochen, den Anbau von Lebensmitteln oder unser Konsumverhalten generell nach. War Sokrates noch ein echter Gastrosoph, der Menschen auf dem Markt nach ihrem Lebensmittelkonsum befragte und gute Speisen offenbar zu schätzen wusste, werteten seine Schüler Platon und Aristoteles das Kulinarische „zu einer unwichtigen Nebensache des menschlichen Lebens“ ab. Auf sie geht laut Lemke wesentlich die „Fastfood-Mentalität“ zurück, der erst Ludwig Feuerbach im 19. Jahrhundert auf philosophischer Ebene wieder etwas nennenswertes entgegen zu setzen wusste.

Dass sich in unserem Essverhalten eine generelle ethisch-moralische Haltung widerspiegelt, zeigt Lemke am Beispiel des Sternekochs Michael Hoffmann. In seiner „Gemüseküche“ sucht Hoffmann nach einer Verwendung für alles, was die gerade zubereiteten Pflanzen zu bieten haben und ist so bemüht, möglichst wenig Abfall zu produzieren. Indem er das für seine Speisen benötigte Gemüse überwiegend selbst anbaut, lebt er außerdem Nachhaltigkeit und Biodiversität. Das ist zwar aktuell ein Trend in der Kulinarik, aber eigentlich gar nicht neu, wie Hoffmann in dem folgenden Interview erklärt: 

Hier geht es zum Interview-Video bei YouTube

Heute ist die Bedeutung einer guten Ernährung für das Leben eines jeden Menschen sogar offiziell bestätigt. Beispielsweise bewertet die Weltgesundheitsorganisation  ungesunde Ernährung als einen Risikofaktor für die zunehmende Aggressivität von Kindern und Jugendlichen. Nicht verwunderlich, dass Lemke dann auch in seinem Buch mit Verweis auf den Zusammenhang zwischen gutem Essen und einem guten Leben fragt: „Ist Moral käuflich?“   

Buchcover "Der Hochzeitsreis"Um ein möglichst erträgliches Miteinander auf Basis liebevoll gedeckter Tische und sorgfältig  zubereiteter Speisen geht es auch in dem Roman „Der Hochzeitsreis“ des brasilianischen Autors Francisco Azevedo. Der Autor beschreibt hier die Geschichte einer Familie, die im 19. Jahrhundert aus Europa nach Amerika auswandert. Ohne eine Lebensperspektive in ihrer Heimat Portugal, macht sich ein Ehepaar samt Schwester auf den Weg nach Brasilien. Dort erhoffen sie sich zumindest eine wirtschaftlich abgesicherte Zukunft. Ein wichtiges Mitbringsel aus der Heimat ist der Reis, den die Hochzeitsgäste auf das Brautpaar haben nieder regnen lassen, um ihnen Glück und Fruchtbarkeit zu schenken.

Tatsächlich sind es die vertrauten Rezepte, die in dem zunächst fremden Land ein Gefühl von Wohlbefinden herstellen. Azevedo geht sogar soweit, von einer Art ‚Kochrezept für eine Familie‘ zu sprechen. Die Zubereitungsart für ein erträgliches  und im besten Falle sogar liebevolles Zusammenleben ist selbstverständlich hoch kompliziert: „Zunächst bedarf es dazu vieler Zutaten. Allein sie alle zusammenzubekommen ist schon schwierig genug – vor allem zu Weihnachten und Neujahr. Wo dies geschieht, ist dabei nicht so wesentlich. Damit es aber gelingt, braucht man auf jeden Fall Mut, Hingabe und viel Geduld“. 

Die Wirkung eines sorgfältig zubereiteten Mahls ist kaum zu unterschätzen. Den Familienvater machen die richtigen Speisen friedfertiger. Und sogar der sorgfältig aufbewahrte und dosierte Hochzeitsreis macht seinem Ruf als Fruchtbarkeitsversprechen alle Ehre. Nach einem traditionellen portugiesischen Rezept zubereitet, sorgt er für die Genesung des Familienvaters in spe. Letztlich sind alle überzeugt, dass sie den plötzlichen Kindersegen einem gesunden Mahl mit dem Hochzeitsreis zu verdanken haben. Doch am Ende seiner Darstellung des Lebens der portugiesischstämmigen Familie in Brasilien kommt der Autor zu dem Schluss, dass es für ein glückliche Familie trotz allem kein Patentrezept gibt: „Denn ist Familie einmal aufgegessen, ist sie auf dieselbe Art nie mehr nachzukochen“.   

Essen: Indonesische Theaterpuppen
Indonesische Theaterpuppen

Für ein Gefühl von Vertrautheit in der Fremde sorgt das Kochen auch in dem Roman „Pulang. Heimkehr nach Jakarta“ der indonesischen Schriftstellerin Leila S. Chudori. Dimas Suryo flieht in den 1960er Jahren vor dem Diktator Suharto nach Paris. Er kümmert sich um seine Freunde, die wie er aus Indonesien geflohen sind, indem er ihre Lieblingsrezepte kunstvoll nachkocht. So können sie sich in der Fremde mit der Erinnerung an Indonesien trösten: „Plötzlich huschte der Schatten von Surti an mir vorüber. Strahlend. Hell. Der Duft von Kurkuma in einer Küche. Ein Kuß, der alles um mich herum vergessen ließ“.

Es gelingt den Exil-Indonesiern, in Paris ein Restaurant zu eröffnen. Es wird zu einer Art Zufluchtsort: „Auf dem Speiseplan des Restaurants Tanah Air standen Gerichte, die sorgfältig mit Zutaten und Gewürzen aus Indonesien zubereitet wurden: roten Zwiebeln, Kurkuma, Nelken, Ingwer, Zitronengras und Galanganuß. Für uns war das Restaurant aber vielleicht auch eine Art Flora, ein Garten mit einer uns vertrauten Pflanzenwelt, in der wir gedeiehen konnten“. Dimas bekocht hier nicht nur seine französische Frau Vivienne und ihre gemeinsame Tochter, das Restaurant wird insgesamt zu einem wichtigen Treffpunkt für die indonesische Exil-Community. Nach und nach kommen auch immer mehr Reisende aus Indonesien zum Essen in das Restaurant und so gelingt es Dimas über das Kochen eine Beziehung zu seiner Heimat aufrecht zu erhalten. Denn eine Rückkehr nach Indonesien ist für ihn und die anderen für die Dauer der Militärdiktatur nicht möglich.

Als Dimas Tochter in den 1990er Jahren als Dokumentarfilmerin nach Indonesien reist,  gelingt es ihr nicht zuletzt durch ihr tiefgreifendes Wissen um die indonesische Kochkunst schnell, eine enge Beziehung zu der Familie  ihres Vaters aufzubauen. Zufällig gerät sie in die Unruhen hinein, die zum Sturz der Militärdiktatur führen. Dadurch bekommt sie die Gelegenheit, in ihrer zweiten Heimat ein zu Hause zu finden.

Trilogie meiner Familie

Gervaise hat Glück. In Trilogie meiner Familie hat sie endlich einen freundlichen und meistens sogar lustigen Mann gefunden, der sie trotz ihrer Kinder heiratet und sogar seinen Lohn nach Hause bringt, statt ihn zu vertrinken. Die Erleichterung ist in der ganzen Familie groß. Während dessen setzt sich Doktor Pascal über die Mahnungen seiner streng gläubigen Haushälterin hinweg und beginnt eine Liebesbeziehung mit seiner Ziehtochter. Bereits seit vielen Jahren ist er dabei, die Geschichte seiner Familie auf Grundlage der Vererbungslehre zu analysieren. Schon lange fürchten viele in der Familie, dass er ‚Schandflecken’ ans Licht zerren könnte und sorgen sich um ihre Existenz. Doch als Doktor Pascal feststellen muss, dass seine selbst zusammengestellte Medizin ihn nicht heilen können wird, flüchtet er sich unvermittelt in die Liebe zu seiner Ziehtochter. Ungefähr zur selben Zeit hat Gervaise sich gerade Geld von einem Bekannten geliehen, um eine eigene Wäscherei zu eröffnen. Sie ist noch einmal Mutter geworden und ihr Mann hatte gerade einen schweren Arbeitsunfall. Sein Einkommen fehlt und die Familie muss hungern. Der Bekannte hilft ihr nach der Eröffnung in der Wäscherei. Sie werden immer ausgelassener und schließlich gesteht er Gervaise seine Liebe und bittet sie, mit ihm fortzugehen. Erschrocken lehnt Gervaise aus Rücksicht auf ihre Familie ab.

Regisseur Luk Perceval entwickelt Liebe. Trilogie meiner Familie 1 auf Grundlage des zwanzigbändigen Romanzyklus über die Familie Rougon-Macquart, genauso wie die anderen beiden Teile Geld und Hunger. Autor der Romane ist der französische Schriftsteller und Journalist Emile Zola. Der Romanzyklus gilt als eines der wichtigsten Werke des Naturalismus. Zola beschreibt hier ausgewogen und ohne zu beschönigen die schwierigen Lebensumstände im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Er porträtiert arme Menschen wie die Bergarbeiter in Germinal genauso wie das Leben einer Edel-Prostituieten in Nana oder die Lebensustände einer Verkäuferin im luxuriösen Pariser Kaufhaus Paradies der Damen sowie die eines Gelehrten in Doktor Pascal. Luk Percval greift sich bei der Inszenierung der Trilogie einzelne Themen der bekannten Romane heraus, wirbelt sie durcheinander und stellt sie in einen neuen Zusammenhang zueinander. Passagen, die an den Roman Doktor Pascal erinnern, stehen auf einmal neben Szenen, die dem Roman Der Totschläger entnommen zu sein scheinen. In allen drei Teilen deckt sich die dargestellte Handlung auf der Bühne niemals vollständig mit der Romanvorlage, sondern nimmt ihre ganz eigene Wendung. Sowohl in Liebe, Geld als auch Hunger greifen dabei unterschiedliche Handlungsstränge ineinander, die sich gegenseitig unterbrechen oder erhellen und sich insgesamt in virtuoser Weise ergänzen.

Handlungsstränge greifen ineinander und erhellen sich 

Geld widmet sich vor allen Dingen den schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen wie der Schauspielerin Nana oder der Verkäuferin Denise. Die Familienbande sind zerrissen und damit verschwinden auch Wärme und Feundschaft aus dem Leben der Menschen. Insbesondere für Frauen gibt es keine geregelten Arbeitsverhältnisse und damit scheint auch die Liebe ihre romantische Seite zu verlieren. Sie entpuppt sich vorwiegend als Machtinstrument und bleibt oft sogar einzige Trumpfkarte in einem brutalen Überlebenskampf. In Hunger schreitet die Anonymisierung fort und die Menschen werden zu einem kleinen Zahnrad in der riesigen Maschinerie eines Bergwerks. Wie in Germinal und auch bei Charles Dickens oder Gerhart Hauptmann beschrieben, liefert die Industrialisierung den Arbeitern zunächst keinen Wohlstand. Eine Familie zu gründen können sich die meisten Arbeiter nicht mehr leisten, viele sind krank und es fehlt insgesamt am Nötigsten. Erst nach einem erfolgreichen Aufstand wird ein friedliches Zusammenleben möglich.

Während der gesamten Trilogie bleibt immer deutlich, dass die dargestellten Handlungen subjektiv gefärbt sind. Oft kommentieren und ergänzen Darsteller auf der Bühne ein Geschehen, an dem sie selbst nicht beteiligt sind. So sieht der Zuschauer nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den Augen des Kommentierenden. Außerdem werden die Stücke von Live-Musik begleitet, die für die Handlung auf der Bühne weitere Akzente setzt und damit die impressionistischen Note der Stücke unterstreicht. Dieser Charakter findet sich auch in Emile Zolas Romanen. Folgende Passage über das impressionistische Spiel von Licht und Schatten etwa, das nur einen Augenblick lang aus einer bestimmten Perspektive zu beobachten ist, findet sich in dem Roman Paradies der Damen:

Die Sonne war soeben hinter den Bäumen des Gartens verschwunden, der Tag ging zur Neige, leichte Schatten bereiteten sich allmählich über das weite Gemach. Es war die zarte Stunde der Abenddämmerung, jener Augenblick besinnlicher Entspannung zwischen dem Erlöschen des Tageslichts und dem Anzünden der Lampen. Die Gestalten der Herren de Boves und Vallagnosc, die immer noch am Fenster standen, warfen große Schatten auf den Teppich, während im letzten Tagesschimmer des anderen Fensters der vor einigen Minuten bescheiden eingetretene Herr Marty mit seinem blassen Professorengesicht und dem abgetragenen Oberrock sichtlich verlegen dem Modegespräch der Damen lauschte (Aus: Emile Zola: Das Paradies der Damen. Deutsch von H. Rosé und Margarete Montgelas)

Im Rahmen der Ruhrtriennale ist Liebe+Geld+Hunger. Trilogie meiner Familie an einem Tag zu sehen gewesen. Neun Stunden Theater am Stück sind zwar eine lange Zeit, aber es lohnt sich wirklich. Denn gerade so wird sichtbar, dass Figuren wie Nana über mehrere Teile hinweg eine Rolle spielen. Außerdem unterstreicht diese Art des Zuschauens den chronologischen Charakter des Werks.

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Das Blackbox-Prinzip

Matthew Syed sucht in Das Blackbox-Prinzip. Warum Fehler uns weiter bringen nach Lösungen. Leidenschaftlich sucht er in ganz unterschiedlichen Bereichen danach, wie aus Fehlern zumindest gelernt werden kann und sich Innovationen erzielen lassen. Dazu nimmt er seine Leser mit auf die Suche nach den Gründen für spektaktuläre Flugzeug-Abstürze oder den überraschenden Tod von Elaine Bromiley. Sie war eine glücklich verheiratete Mutter von zwei Kindern, die ganz unerwartet eine Routine-Operation im Krankenhaus nicht überlebte. Genauso packend beschreibt er, wie es James Dyson nach vielen Rückschlägen doch noch gelang, ein innovatives Staubsauger-Prinzip zu entwickeln oder sich schließlich Investoren für ein Projekt finden ließen, das heute Dropbox heißt.

Innovationen durch Analyse von Fehlern

Für Matthew Syed ist ein Kulturwandel nötig, um bessere Ergebnisse zu erreichen. Passieren schwerwiegende Fehler, soll künftig noch mehr als bisher eine genaue Aufarbeitung stattfinden: Schonungslos und vor allen Dingen vollkommen ohne Rücksicht auf Hierarchien, Eitelkeiten oder sonstige Faktoren, die zu einer Verschleierung der Probleme führen könnten. Seiner Ansicht nach lässt sich nur so nachvollziehen, wie und wodurch genau die Fehler entstanden sind. Bestes bereits praktiziertes Beispiel ist für Matthew Syed die Vorgehensweise in der Luftfahrtindustrie:

Die Haltung der Luftfahrtindustrie ist beeindruckend und ungewöhnlich. Jedes Flugezeug ist mit zwei fast unzerstörbaren Blackboxes ausgestattet, von denen eine die Anweisungen aufzeichnet, die andere die Unterhaltungen und Geräusche im Cockpit. Gibt es einen Unfall, werden die Daten analysiert

Die Anwendung dieses Blackbox Prinzips könnte in Matthew Syeds Augen etwa in Krankenhäusern hilfreich sein, da nach seinen Recherchen vermeidbare Behandlungsfehler die dritthäufigste Todesursache in den Vereinigten Staaten sind. Doch die Ereignisse werden viel zu oft nicht schonunglos aufgeklärt, da die Angst überwiegt. Matthew Syed geht es bei seinem Plädoyer für die möglichst lückenlose Aufarbeitung ausdrücklich nicht um Schuldzuweisungen, einseitige Verurteilungen oder gar darum, einen Sündenbock zu finden:

…das Problem sind nicht nur die Folgendes Versagens, sondern auch die Einstellung dazu. Im Gesundheitswesen wird Kompetenz oft mit klinischer Perfektion gleichgesetzt. Fehler zu machen, so denkt man, zeugt von Unfähigkeit. Die Vorstellung zu versagen, ist bedrohlich

Für Matthew Syed sind Misserfolge etwas ganz alltägliches und etwas, das wir alle manchmal erdulden müssen. Er hofft, dass durch eine verbesserte Handhabung schwere Fehler zumindest in Zukunft besser vermieden werden können. Begnügen sich die Ermittler mit einseitigen Schuldzuweisungen, erreichen sie nach Matthew Syeds Recherchen allenfalls, dass sich niemand mehr traut, sich schwieriger Fälle anzunehmen. Fehler sind insofern insgesamt für ihn kein Makel, sondern ein Potential, aus dem sich neue und bessere Lösungen ablesen lassen:

Medizinische Behandlungsfehler unterlaufen in der Regel nicht dann, wenn Kliniker gelangweilt oder faul oder niederträchtig sind, sondern weil sie mit der Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt arbeiten, die man von der Ärzteschaft erwarten würde

Matthew Syed ist nicht so naiv zu glauben, dass eine genaue Analyse zwingend klare Lösungen für die bestehenden Probleme ergeben muss. Er ist sich etwa der Grenzen der menschlichen Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeit durchaus bewusst und plädiert dafür, diese Faktoren in die Lösungsvorschläge mit einzubeziehen. Außerdem müssten alle Beteiligten  ermutigt werden, Fehler zuzugeben und an Lösungen mitzuarbeiten. Die richtigen Lehren aus der Analyse zu ziehen ist für Matthew Syed eine sehr anspruchsvolle und kreative Aufgabe, die sich aber unbedingt lohnt:

Die erfolgreichsten Ermittler zeigen nicht nur die Bereitschaft, sich mit dem Vorfall zu beschäftigen, sie haben auch die analytischen Fähigkeiten und kreativen Einsichten, um die wichtigsten Lehren aus ihm zu ziehen. Tatsächlich ist die Verbesserung der Qualität und Differenziertheit von Ermittlungen laut vielen Luftfahrtexperten in den vergangenen Jahren eines der entscheidenden Kriterien für die Erhöhung der Sicherheit gewesen

Matthew Syeds Buch liest sich über weite Strecken wie ein spannender Action-Thriller, insbesondere wenn er Beispiele aus der Luftfahrt schildert. Durch die ungemein lebendige und packende Erzählweise bringt der ehemaligen Tischtennis-Profi, der viermal englischer Meister war und heute für die ‘Times’ und die BBC arbeitet, seinen Lesern die Fälle ungemein nah. Sehr überzeugend wirkt dabei insbesondere seine Fähigkeit, die Sachverhalte sehr differenziert und aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Leider lässt diese Herangehensweise gegen Ende des Buches ein wenig nach und dennoch ist Das Blackbox Prinzip. Warum Fehler uns weiter bringen ein sehr lesenswertes Buch, nicht zuletzt auch weil es nach Ansicht von Matthew Syed nichts Geringeres als die Gründe für die Überlegenheit des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu Tage fördert.

Über das Leben in Städten

Ein Schwerpunkt der letzten Ausgabe des internationalen literaturfestival berlin war die Reihe ‚Visions 2030’, die sich mit dem Leben in Städten auf allen fünf Kontinenten, heute und in Zukunft, beschäftigt hat. Omar Akbar war Diskussionsleiter der Reihe und beschreibt, warum dieses Thema so wichtig ist:

Omar Akbar: „In der Stadt sammeln sich Ethnien, Kulturen, Innovationen, Forschung und Wissenschaft, dies strömt eine besondere Attraktivität aus. Somit ist die Migration ein altes Thema in den Städten, sie verspricht den Migranten Hoffnung die Möglichkeiten zu nutzen, auch die Ärmsten der Armen erhalten eine Chance und könnten es schaffen.

Die Urbanisierungsprozesse und auch das Wachstum der Städte wird seit Jahrzehnten beobachtet. Es ist eine unaufhaltsame Entwicklung mit der Folge, dass die dörflichen Strukturen weltweit aufgegeben oder industriell transformiert werden. Ägypten ist ein interessantes Beispiel dafür.

Generell ist der Wandel ein Wesenszug der Stadt. Sie kann wachsen, stagnieren oder schrumpfen. Ehemals strategisch wichtige Orte wie etwa die Handelswege können ihre Funktionen ändern – Die Geschichte ist voll von solchen Veränderungen. Auch aktuell können wir so etwas in Deutschland beobachten: die Städte in Ostdeutschland und im Ruhrgebiet schrumpfen. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Bevölkerungszahl sich reduziert und damit ganz natürliche Veränderungen nach sich zieht. Folglich haben wir mehr bebaute Flächen und weniger Menschen.

Zugleich ist festzustellen, dass wir die Völkerwanderung falsch eingeschätzt haben. Sie existiert weltweit und zur Zeit sind es etwa 6 Millionen, die ihre Orte verlassen. Allein im Libanon mit einer Einwohnerzahl von etwa 4 Millionen leben zur Zeit 1 Million syrische Flüchtlinge. Die Völkerwanderung wird weiterhin erheblich wachsen – auch nach Europa.“

Manchmal hat man den Eindruck, das wichtigste Thema in Bezug auf die Stadtentwicklung in Deutschlandist das Sterben der kleinen Geschäfte in den Innenstädten und die Leere, die dort dann offenbar zurück bleibt. Oft wird ja der Online-Handel dafür verantwortlich gemacht. Woanders ist das aber kein Thema?

Omar Akbar: “Es ist richtig, Einkaufszentren nehmen massiv zu und die Bedeutung des Einzelhandels wird rudimentärer. Trotzdem haben die großen Marken sich ihre individuellen Standorte geschaffen. Zugleich glaube ich nicht daran, dass der Online-Handel das städtische Leben verändern wird. Er ist eine Ergänzung. Der Markt ist viel zu flexibel und beachtet genauestens die Bedürfnisse. Auch die individuelle Kommunikation spielt eine bedeutende Rolle. Häufig bevorzugen Kunden eine professionelle Beratung, möchten die Qualität der Waren fühlen, oder auch die typischen Gerüche wahrnehmen. Im Kontext der Globalisierung sind neue Angebote hinzugekommen. Auf dem Markt in Florenz beschrieb ein Betreiber die Veränderung der Gerüche. Es riecht nicht mehr florentinisch nach Käse, Gemüse etc., sondern auch nach Sushi und Döner.”

Wie sehen Sie das Bewusstsein der Menschen hinsichtlich der Mentalitäten oder des Verhaltens in der Öffentlichkeit?

Omar Akbar: „In der Öffentlichkeit verhält man sich in Deutschland zurückhaltend, wenn es um Körperkontakte geht, insbesondere unter Männern. Im mediterranen Raum ist dieses viel unverkrampfter, die Emotionalität wird anders ausgedrückt.

Ebenso sehe ich in Bezug auf die Esskultur gravierende Unterschiede: überall findet man regionale Unterschiede und Geschmacksrichtungen. Darüber hinaus möchte ich weitere Besonderheiten aufzählen: Lebt man beispielsweise in Algier ist es ist im Prinzip unmöglich, sich von der eigenen Familie zu emanzipieren, wobei es Frauen dabei besonders schwer haben. Abends in den Cafés und Restaurants sitzen im wesentlichen die Männer, ein allgemein bekanntes Phänomen im Orient. Andererseits können Frauen in Bogotá de facto keine Busse benutzen, da die Vergewaltigungsraten extrem hoch sind. Die Realitäten verändern sich natürlich stetig. Als ich Ende der 80er Jahren in Ägypten lebte, war es dort sogar nach Angaben der Deutschen Botschaft sicherer, als Berlin. Man konnte in Kairo seine Einkaufstüten auf dem Auto stehen lassen, ohne dass etwas abhanden kam.”

Woran liegt es denn, dass die politische Lage sich in dieser Gegend so zugespitzt hat?

Omar Akbar: „Viele Probleme sind unter anderem ein Ergebnis der nachkolonialen Phase und dem Zerfall der Sowjetunion. Zugleich befreite sich der Islam von Bevormundung durch staatliche Organisationen. Nach dem Fall vom Schah im Iran begann die gänzliche Islamisierung der Gesellschaft, ein Vorbild für andere islamische Länder in der Region. Dass dieser Schritt über die Region hinaus gehen würde, wusste man zu dieser Zeit nicht. Die aktuelle Islamisierung hat bedingt mit dem Einmarsch des Westens im Nahen-Osten etwas zu tun. Es ist im Wesen bestimmter Islambewegungen verhaftet.“

Zum Abschluß: Wie sehen sie die Situation in Deutschland?

Omar Akbar: „Ich persönlich stelle fest, dass wir in Deutschland alle Freiheiten haben, um uns entfalten zu können. Jene, die hier alles problematisch finden, sollten in ihren Herkunftsländern beispielsweise einmal zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen. Da erfährt man, welche Rolle Macht und Geld spielen können.

Die Errungenschaften dieses Landes muss man schätzen lernen und verinnerlichen. Nur mit dem Konsum westlicher Güter kann die eigene Entwicklung nicht voranschreiten.“

AutorInnen:

Kevin Barry, Irland: ‘Die dunkle Stadt Bohane’, Roman ir.gif / Mircea Cărtărescu, Rumänien: ‘Die Wissenden’ir.gif, Roman / Maria Sonia Cristoff, Argentinien: ‘Unter Einfluss’, Roman / Roddy Doyle, Irland: ‘Henry, der Held’, Roman / Sónia Gomes, Angola / Helon Habila, Nigeria / USA: ‘Öl auf Wasser’, Roman / Rawi Hage, Libanon / Kanada: ‘Kakerlake’, Roman / Perihan Maǧden, Türkei:  ‘Zwei Mädchen: Istanbul-Story’, Roman /  Suketu Mehta, Indien / USA: ‘Bombay: Maximum City’, Roman / Laura Restrepo, Kolumbien/E: ‘Land der Geister’, Roman /  Boualem Sansal, Algerien:  ‘2084: Das Ende der Welt’, Roman

WissenschaftlerInnen:

Zeynep Aygen (Türkei), Sonja Beeck (D), Angelika Fitz (A), Adam Greenfield (USA), Martina Löw (D), Hildegard Matthias (D), Philipp Misselwitz (D), Stephan Rammler (D), Helmut Rechenberger (A), Stefan Schaurig (D), Jasmin Wiebke (D)

Indonesische Lyrik

Viele Besucher sind ins Literaturhaus Berlin gekommen, um indonesische Lyrik kennen zu lernen. Meist wird der Text erst in der offiziellen indonesischen Landessprache Bahasa Indonesia gelesen, dann auf Deutsch. Die Eindrücke könnten unterschiedlicher kaum sein: Auf der einen Seite die sehr melodisch klingenden Worte, denen der vortragende Agus R. Sarjono mit viel Emphase Leben einhaucht und auf der anderen die deutsche Version. Die ganze Art des Vortrags ist anders, sie ist deutlich nüchterner und zurückhaltender, wodurch sie zumindest eher den hiesigen Gewohnheiten bei Lesungen entspricht. Doch es funktioniert trotzdem, vor allen Dingen auf der inhaltlichen Ebene.

Emphase und Performance

Wie viele indonesische Gedichte, trägt auch ‚Die Predigt‘ stark narrative und absurde Züge. Die Schilderung eines Priesters, der verzweifelt versucht, der Menschenmasse in seiner Kirche zu erklären, dass er ihnen leider weder mit Rat noch Führung behilflich sein kann, bringt auch die deutschsprachigen Zuhörer zum Lachen. Das Gedicht gehört zu den bekanntesten, Verfasser ist der Lyriker, Dramatiker, Schauspieler und Regisseur Rendra. 2009 verstorben, wirkt die Arbeit des Modernisierers der indonesischen Kultur bis heute nach. „In Indonesien sind Lesungen sehr gut besucht“, erklärt der Übersetzer und Indonesien-Experte Berthold Damshäuser, „Rendra hat Lesungen vor gut 10.000 Menschen in Sportstadien gehalten. Die Indonesier sind gute Performer und nur sehr wenige rezitieren ihren Text nicht selbst. Außerdem gibt es dort kaum eine Veranstaltung, bei der nicht gelacht wird“. In Indonesien lassen sich nur sehr wenige gedruckte Bücher, dafür aber umso mehr Eintrittskarten für solche Lese-Performances verkaufen, die oft von Musik begleitet werden.

17.000 Inseln, oft mit eigenen Traditionen

Das Äquatorarchipel Indonesien, das rund 17.000 Inseln mit vielen eigenen Sprachen und Traditionen umfasst, war jahrhundertelang eine niederländische Kolonie. Bis heute haben dort europäische Einflüsse neben arabischen, indischen und chinesischen Spuren hinterlassen, die sich auch in den Texten der von Berthold Damshäuser und Agus R. Sarjono herausgegebenen Lyrik-Anthologie Sprachfeuer entdecken lassen. Ein Gedicht von Sitor Situmorang etwa, das den Titel ‚Weimar‘ trägt, dreht sich um das bis heute spürbare Nachwirken der beiden in Indonesien bekannten Dichter Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Ebenso beinhaltet die Sammlung ein Poem Afrizal Malnas, in dem das Wort ‚Dada’ die dominierende Rolle spielt. Gemeint ist damit allerdings nicht nur die europäische Avantgarde-Bewegung von Anfang des 20. Jahrhunderts, das Wort hat darüber hinaus gehend diverse Bedeutungen in der indonesischen Sprache. Indirekt lassen sich unter anderen Einflüsse Friedrich Hölderlins, Rainer Maria Rilkes, Paul Celans, Arthur Rimbauds, Guillaume Apollinaires und natürlich William Shakespeares erkennen.

Sprache ohne Metrik

Trotz aller erkennbaren Parallelen, gibt es eindeutige Brüche mit der europäischen Tradition. Reim und Versmaß im ‘klassischen’ Sinne lassen sich nicht finden, was laut Berthold Damshäuser nicht zuletzt auf Eigenheiten der Bahasa Indonesia zurückzuführen ist: „Die indonesische Sprache kennt keine Metrik und damit lassen sich auch keine festgefügten Metren finden“. Insofern erinnern die Gedichte mit ihrem oft sehr prosaischen Charakter am ehesten an moderne europäische Lyrik, wobei sich indonesische Gedichte neben der ungemein assoziationsreichen Sprache vor allen Dingen durch eine ihnen eigenen Rhythmik und Musikalität auszeichnen.

Landschaft und politische Themen

Die Themen der 223 Gedichte von 28 Lyrikerinnen der Anthologie Sprachfeuer reichen von Liebe und Einsamkeit über Gewalt und Politik bis hin zu Impressionen von Landschaft und Religion, wobei der Islam eine zentrale Rolle spielt. Mehr als 80% der Indonesier sind Muslime. Dabei stehen Gedichte mit eindeutig religiöser Thematik wie ‘Herr, wir sind uns so nah’ von Abdul Hadi WM neben Werken feministischer Prägung wie denen der Philosophie-Professorin Toeti Heraty. Auch die teilweise umstrittene Lyrikerin Dorothea Rosa Herliany, die Gewalt an, aber ebenso von, Frauen in ihren Werken anspricht, hat einen festen Platz in der indonesischen Lyrik-Szene. Manche Gedichte scheinen die Verhältnisse vor und um den Sturz des Suharto-Regimes 1998 zu beleuchten. Ein Ereignis, das in der kreativen Szene Indonesiens Veränderungen nach sich gezogen hat. „Seit dem Sturz ist die indonesische Literatur generell so frei, dass sie die Verhältnisse getreu abbildet“, beschreibt Berthold Damshäuser die Auswirkungen. Einige Poeme befassen sich außerdem mit der tropischen Landschaft und Vegetation des Äquatorarchipels in ihrer gesamten Abivalenz. Nicht selten geschieht das auf eine für europäische Leser zum Teil ungewöhnliche, aber gleichzeitig erstaunlich vertraute Weise.

Berthold Damshäuser empfiehlt für die Lektüre:  „Man sollte eigentlich nur auf den Text achten und vergessen, dass es ein indonesischer ist“. Das gelingt in den meisten Fällen sehr gut.

Leseempfehlungen:

Sprachfeuer. Eine Anthologie moderner indonesischer Lyrik. Hg. Agus R. Sarjono und Berthold Damshäuser. 374 Seiten, regiospectra verlag berlin. ISBN 978-3940132741

Gebt mir Indonesien zurück! Eine musikalische begleitete Lesung moderner indonesischer Lyrik (in deutscher Sprache). Rezitation: Berthold Damshäuser, Musique automatique: Peter Habermehl. Gesamtspielzeit: 73:38:08. Audio-CD. Katalognummer: 01970101

1965ff. Die Gegenwart eines Massenmordes. Ein politisches LesebuchHg. Anett Keller für die Südostasien-Informationsstelle. 220 Seiten, regiospectra verlag berlin. ISBN 978-3940132680

Martin Jankowski: Indonesien lesen. Notizen zu Literatur und Gesellschaft. 195 Seiten, regiospectra verlag berlin. ISBN 978-3-9401-3266-6

Samar Yazbek: Gestohlene Revolution

Wenn es ganz schlimm gewesen sei, habe sie sich vorgestellt, eine Romanfigur zu sein, erklärt die mehrfach ausgezeichnete syrische Journalistin und Autorin Samar Yazbek bei der Präsentation ihres neuen Buchs Gestohlene Revolution – Reise in mein zerstörtes Syrien im Rahmen des internationalen literaturfestival berlin. Das habe ihr geholfen, die lebensgefährlichen Situationen besser zu ertragen, in die sie bei heimlichen Reisen nach Syrien geraten sei.

Seitdem bei der letzten Reise ihr Begleiter, ein polnischer Journalist, entführt worden und ein mit ihr kooperierendes Medienbüro angegriffen worden sei, verzichte sie ganz auf Reisen in ihre Heimat. Die Situation im Land sei unerträglich, vor allen Dingen für Zivilisten. Verantwortlich dafür sei in erster Linie der IS. Es habe die Hoffnung gegeben, in den Gebieten, die die Aufständischen Präsident Assad entreißen konnten, einen neuen Staat zu errichten. Sie selbst habe mit vielen Frauen, meist Witwen getöteter Kämpfer, gearbeitet und versucht, sie zu schulen, um ihnen eine wirtschaftliche Perspektive zu bieten und insgesamt die Zivilisation wieder aufzubauen. Das sei jedoch nicht möglich gewesen. Der IS und andere Terrorgruppen hörten nicht auf, insbesondere zivile Opfer zu attackieren und machten damit jegliche Hoffnung zunichte.

Sie habe nicht den Eindruck, dass die Syrer selbst in der Lage seien, den Konflikt zu lösen. Wirklich etwas erreichen könnten nur die Großmächte. Eigentlich habe sie nur noch journalistisch arbeiten wollen, um die Situation dort etwa in Form von Interviews zu dokumentieren. Die Literatur sei in Syrien ganz weit weg und sie könne sich im Moment kaum vorstellen, dort jemals wieder an einen solchen Punkt zurück zu kehren. Aber sie wolle versuchen, über die Ereignisse in Syrien bis 2013 Zeugnis abzulegen und habe ihre Eindrücke in Gestohlene Revolution – Reise in mein zerstörtes Syrien festgehalten.

Samar Yazbek: Gestohlene Revolution – Reise in mein zerstörtes Syrien. Deutsch von Larissa Bender.