Andrea Bajani: Erkennst du mich

Wie lässt sich die Leere füllen, die ein Mensch nach seinem Tod hinterlässt? Andrea Bajani zeichnet lebendig die prägendsten Szenen von Leben, Sterben und Tod des krebskranken Antonio Tabucchi nach und lässt ein abwechslungsreiches und teilweise sogar sehr farbenfrohes Porträt des Schriftstellers entstehen. Dabei verwendet er immer wieder die direkte Rede, fast so, als hätte er einen Brief an seinen verstorbenen Freund verfasst.

Unsicherheit, wie mit der Situation umzugehen ist, dominiert die Trauergäste um den aufgebahrten Tabucchi. Auch nach seinem Tod “bewohnt” der bekannte Schriftsteller auf manchmal schwer zu fassende Weise die Leerstelle, die er hinterlässt. Da ist etwa das Flackern der Totenkerzen, das Tabucchi noch selbst zu steuern scheint sowie die Fotos oder Tonaufnahmen mit alten Interviews, die den Toten fast ganz unmittelbar zurück in die Mitte der Trauergemeinde holen. Dann ist da auch die Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit Tabucchi, das Kennenlernen, seine Maskeraden und Zirkusnummern als Schriftsteller sowie im ‚echten’ Leben. Darüber hinaus schleichen sich Lesungen, Besuche in Tabucchis Haus und Wohnungen mit und ohne ihn oder an die vielen Telefonate, die teilweise sehr unvermittelt in die unpassendsten Momente hinein platzen konnten, zurück in das Gedächtnis. Deutlich ist auch immer noch der Eindruck, dass Tabucchi, mehr und mehr gezeichnet durch sein Krebsleiden, zunehmend launisch wurde.

Es bleiben aber auch die Momente lebendig, in denen Tabucchi als Schriftsteller dem jungen Kollegen Schreib- und damit auch Lebenshilfe geleistet hat. Später war diese Hilfe mit dem Gefühl verbunden, dass der Ältere an den Jüngeren ‚die Wörter‘ und ‚das ganze Vokabular‘ zu übergibt und Bajani sein berufliches Erbe antreten lässt. Es ist ein schweres Erbe, alles atmet immer noch Tabbucchis Präsenz und in manchen Momenten wirkt es, als ob er Bajani sogar nach seinem Tod wieder in die Schranken verweisen will. Dann sieht er Bajani gefühlt missmutig und sehr real aus einer Fotografie direkt in die Augen und scheint ihn verärgert anzupoltern, dass er sich in einem Haus befinde, das nicht ihm gehöre und er sich nicht zu weit in das fremde Terrain vorzuwagen habe.

Erkennst du mich von Andrea Bajani ist ein vielschichtiges Porträt, das deutlich macht, warum unter kein Leben ein Schlussstrich gesetzt werden kann.

Psychopathen

Um kategorisieren zu können, wer als ‘Psychopath’ und damit als schwer gestört eingestuft werden muss, ist die Psychopathy Checklist entwickelt worden. Doch obwohl die allermeisten Psychopathen in den Hochsicherheitstrakten der Gefängnisse einsitzen, lassen sich die ‘Normalen’ laut Kevin Dutton, Forschungspsychologe am Calleva Research Center for Evolution and Human Sciencedes Magdalen College der Oxford Universityin vielen Fällen gar nicht so leicht von ihnen abgrenzen. Beispielsweise gibt es zwischen dem Gehirn eines Psychopathen und dem eines als ‘normal’ geltenden Menschen im Allgemeinen rein äußerlich keinen erkennbaren Unterschied. Außerdem sind es manchmal gerade Eigenschaften, die Psychopathen zugerechnet werden, wie Furchtlosigkeit, Selbstsicherheit, Charisma oder Skrupellosigkeit, die bestimmte Menschen beruflich besonders erfolgreich machen:

Ein Mensch kann zum Beispiel unter Druck eiskalt sein und etwa so viel Empathie zeigen wie eine Lawine (einigen von dieser Sorte werden wir später auf dem Börsenparkett wieder begegnen). Das bedeutet nicht automatisch, dass er auch gewalttätig, antisozial oder gewissenlos handelt. Ein solches Individuum weist zwar zwei psychopathische Merkmale auf und steht damit auf der >psychopathischen< Skala höher als jemand, dem diese Merkmale fehlen. Damit ist er aber noch weit entfernt von der Gefahrenzone derjenigen, die sämtliche psychopathischen Merkmale aufweisen

Mit Hilfe vieler spannender Experimente, Forschungsergebnisse und unterhaltsamer Anekdoten macht Kevin Dutton sich auf gut lesbare Weise auf die Suche nach der manchmal offensichtlich nur sehr schwer zu ziehenden Grenze. Dabei zeigt er viele Menschen, die zumindest in Teilen über herausragende Fähigkeiten verfügen. Wer hätte vermutet, dass Menschen mit gewissen psychopathischen Eigenschaften die besseren Zollbeamte sein oder sich unter Umständen für die Lösung sozialer Probleme als besonders gut geeignet erweisen können? Oder dass buddhistische Meditation bewirken kann, dass ein Mensch in bestimmten Momenten genauso gefühllos und unbeteiligt reagiert wie ein Psychopath?

Der Erfinder der Psychopathy Checklist, Robert Hare, lobt PSYCHOPATHEN. Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann von Kevin Dutton als “höchst anregendes Buch für alle, die die >psychopathische< Welt, in der wir leben, besser verstehen wollen”. Der Präsident der Society for the Scientific Study of Psychopathy, Scott Lilienfeld, sagt über das Buch: “Der unwiderstehliche Kevin Dutton ist wieder da. Diesmal mit einem pietätlosen Aufriss der hellen und dunklen Seiten der geheimnisvollen Psychopathen. Er liefert eine mitreißende Mischung von Wissenschaftlichem und Persönlichem und informiert und unterhält die Leser gleichermaßen”.

Drogen sollten legal werden

“Dass Schreiben Politik ist, schon im Akt des Niederschreibens und erst recht im öffentlichen Vortrag: Das ist immer wieder spürbar, gerade beim internationalen literaturfestival berlin“, schreibt Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele und damit Gastgeber des internationalen literaturfestivals berlin, in seinem Grußwort. Die Reihe Reflections sollte dem Politischen konkret Raum geben und Themen eine Plattform bieten, die möglicherweise auch weh tun. In diesem Rahmen haben die Mexikanerin Sabina Berman und die Kolumbianerin Laura Restrepo über die Situation in Lateinamerika berichtet. Sie kommen zu dem Ergebnis: Um die großen Probleme in Latein- und Süd-Amerika zu lösen, sollten Verkauf und Konsum von Drogen legal werden.

Man gehe davon aus, dass rund 100 Millionen Menschen in den USA und fast 35 Millionen Menschen in Europa Marihuana oder Kokain konsumierten, erklärt Sabina Berman. Die Drogen seien Teil des Lebensstils geworden. Dabei sei der Konsum im Allgemeinen straffrei, nur der Handel werde polizeilich und juristisch verfolgt. Das sei Heuchelei. Da beispielsweise ein in Kolumbien produziertes Gramm in den USA und Europa für das zehn- oder zwanzigfache weiter verkauft werden könne, gebe es einen regen Transit der Drogen von Süd- nach Nordamerika. Damit verbunden sei ein blutiger Drogenkrieg.

Vor sechs Jahren sei in Mexiko rund 33% des Landes in der Hand der Drogenkartelle und damit unregierbar gewesen. Um diesen Zustand zu ändern, habe der Präsident vor sechs Jahren einen strategisch ungeschickten Krieg gegen die Kartelle angefangen. Das Ergebnis sei, dass diesem Konflikt bis zum heutigen Tag rund 120.000 Menschen zum Opfer gefallen seien – also insgesamt mehr Tote als es im Vietnamkrieg gegeben hat. Heute seien rund 66% des Landes unregierbar. Vor allen Dingen problematisch sei, dass die Kartelle kopflos zerschlagen worden seien. Die davor in den Kartellen organisierten Menschen seien danach in wirre Banden ohne Führung zerfallen, darunter auch Kinder und Jugendliche.

Die Drogenkartelle hätten nun auch den letzten Rest Respekt vor der Regierung, ihrem früheren Partner, verloren. Sie seien jetzt sehr gut bewaffnet, meist besser als die Polizei, und diktierten den Politikern, was zu tun sei. Die USA handelten mit den Waffen, mit denen die Kartelle die Massaker verübten. Man verdanke den USA die Demokratie, aber dort sei man auch verantwortlich für den ungemein blutigen Krieg in Mexiko. Der Krieg müsse sofort beendet und die Sicherheit des Volkes zum obersten Ziel der Maßnahmen gegen die Drogenkartelle werden, nicht nur die Zerschlagung der Machtstrukturen. Sabina Berman wünscht sich einen niedrigschwelligen Krieg, von dem die Bevölkerung fast nichts bemerkt. Jugendlichen solle der Konsum von Marihuana erlaubt werden und Morde müssten von der Polizei verfolgt und geahndet werden.

Auch für Laura Restrepo ist die Legalisierung der Drogen die einzige Option. In Europa halte man Drogenhändler für eine Art Feudalherren und unterschätze die Gefahr. Krieg und Drogen seien zwei Seiten derselben Medaille. Das Problem reiche insgesamt von den Drogenfeldern in Kolumbien bis zu den Banken in den Industrienationen. Da die Drogenbosse teilweise besser bewaffnet seien als die Polizei, seien die staatlichen Institutionen unterhöhlt und es stelle sich die Frage, ob Zivilisation überhaupt unter diesen Bedingungen überhaupt noch möglich sei. Fälschlicherweise werde das Problem immer auf ‘die Droge’ reduziert. Tatsächlich seien die Schwierigkeiten sehr komplex. Es gebe einen ungezähmten Kapitalismus auf allen Ebenen, der die Konkurrenz einfache ausschalte. Er zeige sich in Form des eifersüchtigen Ehemanns, der seine Frau töte oder in der des Geschäftsmanns, der seinen Konkurrenten einfach ausschalte. Dahinter stehe ein ganzes System. In Kolumbien seien drei Mal progressive Präsidentschaftskandidaten umgebracht worden. Alonso Salazar habe eine Biografie über den bekanntesten Mörder Kolumbiens, Pablo Escobar, geschrieben. Pablo Escobar habe 1,5 Millionen Dollar am Tag eingenommen. Es seien enorme Kapitalströme, die der Drogenhandel fließen ließe.

Im Alltag sei es schwer geworden, sich aus dem Drogenhandel ganz heraus zu halten. Als Beispiel führt Laura Restrepo einen kleinen Ort in der Karibik an. Dort gebe es keine Hotels, nur ein paar Ferienwohnungen. Die Menschen dort hätten in erster Linie vom Fischfang gelebt. Doch der Fischbestand habe zu schwinden begonnen und die Fischer hätten angefangen, Kokapäckchen einzusammeln, die von Hubschraubern abgeworfen worden seien, um sie von dort aus weiter nach Norden transportieren zu lassen. Eines Tages habe sich das Gerücht verbreitet, dass ein junger Mann getötet worden sei. Er habe AIDS gehabt und die Dealer töteten jeden, der an AIDS erkrankt sei. Das habe bei den Menschen dort Angst ausgelöst. In einigen Dörfern seien mittlerweile Massengräber mit Opfern der Dealer entdeckt worden. Die Grenzstadt Ciudad Juarez sei im Moment der womöglich gefährlichste Ort der Welt.

Sabina Berman berichtet, dass sie und das ganze Team bei den Dreharbeiten zu Paradies der Mörder in Ciudad Juarez bedroht worden seien. Für die Dauer der Dreharbeiten seien sie in einem Hotel untergebracht gewesen. Jeder von ihnen habe manchmal am Abend weiße Blumen und Bilder von Geköpften in seinem Zimmer vorgefunden. Niemand habe sagen können, wie diese Gegenstände in die Zimmer gekommen gekommen seien, während 30 bewaffnete Männer eigentlich für ihre Sicherheit zuständig gewesen seien. Zeitgleich seien drei Polizeikommandanten umgebracht worden.

Sabina Berman und Laura Restrepo hoffen, dass die Droge zu einem ganz normalen Agrarprodukt wie Kaffee oder Bananen werden könne. Wenn sie legal sei, werde der Preis automatisch sinken. Sicherlich müsse mit der Legalisierung ein Erziehungsprogramm auf den Weg gebracht werden, der über den Umgang mit den Substanzen aufkläre. In Bezug auf den Tabakkonsum habe solch ein Modell ganz gut funktioniert. Außerdem könne dann auch eine Steuer auf die Drogen erhoben werden, mit denen sich die Behandlung der gesundheitlichen Schäden finanzieren ließe. Auch konservative Intellektuelle wie Mario Vargas Llosa setzten sich mittlerweile für die Entkriminalisierung der Drogen ein. Doch es gebe mächtige Mafiaorganisationen, die sich dem entgegen stellten und weiter an Drogenhandel, Kinderprostitution, Waffen- und Organhandel verdienen wollten.

Bücher und Filme:

Laura Restrepo: Die Insel der Verlorenenir.gif

Regie: Carlos Carrera, Drehbuch: Sabina Berman: Paradies der Mörderir.gif

Sabina Berman: Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchteir.gif

Alonso Salazar:  Pablo Escobar, el patron del mal

Höllenritt Wahlkampf

Von 1990 bis 2012 war Frank Stauss, Inhaber der Werbeagentur ‘Butter’, mit seinem Team meist auf Seiten der SPD an allen großen Wahlkämpfen beteiligt, zumindest in Deutschland. Gerhard Schröder hat er gegen Angela Merkel unterstützt, Hannelore Kraft gegen Norbert Röttgen oder Peer Steinbrück gegen Jürgen Rüttgers und mit ihnen viele Siege und auch manche Niederlage gefeiert beziehungsweise einstecken müssen.

Pläne und Strategien

Mit ‘Höllenritt Wahlkampf – Ein Insider-Bericht’ veröffentlicht Frank Stauss eine Art Tagebuch mit Gedanken, Plänen, Strategien und Notizen zur damals aktuellen Gefühlslage, das bezeichnenderweise in die zwei großen Kapitel ‘Er redet frei – Gott steh uns bei!’ und ‘Live-Report aus dem Maschinenraum der Macht’ eingeteilt ist. Erfahren lässt sich auf knapp zweihundert Seiten, wie der Politikwissenschaftler aus Heidelberg nach erfolgreicher Teilnahme am Wahlkampf Bill Clinton gegen George Bush in den USA nach Düsseldorf kam und zunächst zum Wahlkämpfer der SPD nach der Wiedervereinigung wurde.

Wahlkämpfer nach der Wiedervereinigung

Unterhaltsam und mit zum Teil schwarzem Humor erklärt er, wie wichtig der Kandidat für einen erfolgreichen Wahlkampf ist, wie Strategien erarbeitet werden, welche Rolle mittlerweile das Internet dabei spielt oder eben auch nicht und skizziert mit manchmal erstaunlich knappen Strichen die politische und soziale Situation in den betreffenden Gegenden zur Zeit des Wahlkampfs. All das vermittelt nicht nur einen umfassenden Eindruck davon, wie, ob und zu welchem Preis sich Erfolg gestalten lässt, sondern macht das Buch auch zu einem spannenden Zeitdokument.

Klug, lustig und nachdenklich

“Endlich ein ehrliches Buch über Politik. Klug, lustig, nachdenklich, ausgezeichnet geschrieben – und das von einem Werber. Lesen!”, lobt der Journalist und TV-Moderator Hajo Schumacher und auch Jost Kaiser, Autor von “Als Helmut Schmidt einmal…”, zeigt sich begeistert: “Frank Stauss hat einen harten Sprachsound , ohne zynisch zu sein. Ein grandioses Buch”.

Je suis un metteur en scène japonais

Die Bühne ist hell erleuchtet. Bei Je suis un metteur en scène japonais von Fanny de Chaillé wird sie fast ganz ausgefüllt von etwas, das wie eine monströse Pappe wirkt. An einigen Stellen ist sie eingeschnitten und hochgeklappt. Man könnte glauben, dass die Pappe gleich nur noch an den richtigen Stellen gefaltet und zusammen gesetzt werden muss, um zu einem riesigen Paket zu werden.

Passives Verhalten auf dem Pappkarton

Auf der Pappe bewegen drei schwarz gekleidete und vermummte Gestalten sowie eine ebenfalls schwarz gekleidete Person, deren Kopf nicht verhüllt ist. Zwei der gesichtslosen Gestalten führen die Arme, den Oberkörper und den Kopf, die dritte bewegt in der Hocke kniend an den Unterschenkeln die Beine der Person. Die drei führen sie quer über die Bühne, lassen sie sich bücken, in die Hocke gehen, sich mal nach rechts, dann wieder nach links drehen. Egal was passiert, die Person wehrt sich nie, sondern bleibt die ganze Zeit passiv und verliert nie den unbewegten und doch irgendwie unzufriedenen Gesichtsausdruck. Obwohl sie eindeutig aus Fleisch und Blut ist, wirkt sie eigentlich wie eine Puppe.

Zwischendurch lüften die schwarzen Gestalten manchmal ihre eigenen Masken und zeigen, dass ihr Gesichtsausdruck nicht weniger puppenartig ist als der der Person, die sie auf der pappenartigen Unterlage führen. Manchmal wechseln sie auch die Positionen, dann wird eine andere schwarze Gestalt von den drei weiteren geführt. Der Wechsel wirkt wie die Bewegungen selbstverständlich und perfekt koordiniert, niemand wehrt sich oder gerät auch nur einmal ins Stolpern.

Japanisches Erzähltheater als Inspiration

Fanny de Chaillé hat sich dafür von dem traditionellen japanischen Erzähltheater Bunraku inspirieren lassen. Dort bewegen auf diese Weise drei Personen unauffällig und schweigend fast lebensgroße Puppen durch den Theatersaal, die tragische Liebesgeschichten verkörpern. Am Rande der Bühne sitzt ein Rezitator und ein Musiker, der den Text auf einem Shamisen begleitet.

Auch bei Je suis un metteur en scène japonais gibt es einen Erzähler, der von einem Musiker begleitet wird. Grundlage dieses Stücks ist jedoch keine tragische Liebesgeschichte, sondern das Theaterstück Minetti von Thomas Bernhard. Den Monolog hat Thomas Bernhard dem Schauspieler Bernhard Minetti auf den Leib geschrieben, der in den 1970er Jahren immer die Hauptrollen in seinen Theaterstücken gespielt hat. Der Protagonist philosophiert darin über die Schauspielkunst, die Masken, die er dafür verwendet, das Publikum und das Leben überhaupt, sein Scheitern als Theaterdirektor vor dreißig Jahren, seine Rückkehr auf die Bühne und Lear von William Shakespeare, das einzige klassische Stück, dem er sich nicht verweigert hat und dessen Hauptrolle er gleich zu spielen beabsichtigt. Den Text deklamiert der Rezitator in französischer Sprache während hinter der gefalteten Pappe auf der Bühne die weißen Buchstaben des deutschen Textes wie aus dem Off zu lesen sind.

Rebellion gegen unpassendes Narrativ

Die schwarzgekleideten Gestalten nehmen eigentlich kaum direkt Bezug auf den Text, sie bewegen sich eher im Rhythmus der Textmelodie sowie der vielen Geräusche und der Ukulele, der der Musiker zwischendurch immer wieder asiatisch angehauchte Klänge entlockt. Doch dem Rezitator gelingt es nicht, unbeteiligt am Rand stehend seine Geschichte vorzutragen. Die schwarzen Gestalten werden regelrecht rebellisch und beginnen ihn langsam immer mehr in ihre Performance einzubeziehen. Er wird von ihnen geführt, geschubst oder zu Boden geworfen, so dass er seinen Text verliert und für einen Moment nicht weiter rezitieren kann. Oder er wird von ihnen so gehalten, dass die schwarze Kopfbedeckung, die auch er trägt, regelrecht zur Zwangsjacke wird.

Wehren kann der Rezitator sich offensichtlich nicht gegen die Manipulationen der schwarzen Gestalten und die Grenzen verschwinden immer mehr zwischen ihm und ihnen. Eine der schwarzen Gestalten beginnt plötzlich für einen Moment zu sprechen. Sie erklärt bestimmte Falttechniken des Origami und demonstriert sie an einer anderen der Gestalten. Ohne ein direktes Wort an die Personen auf der Bühne zu richten, gelingt es dem Erzähler immer wieder durch lautes oder wütendes Rezitieren des Textes die anderen zum Schweigen zu bringen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Oft wird er dabei unfreiwillig zur tragisch-komischen Gestalt und die Szenerie trägt Züge des absurden Theaters.

Die Entstehung des Theaters

Fanny die Chaillé hat in einem Interview erläutert, dass es ihr in Je suis un metteur en scène japonais darum gehe, die Strukturen offen zu legen, die das Entstehen des Theaters ausmachten, das immer Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit sei. Ohne Illusionen zu erzeugen, sei jede Geste, jede Bewegung, die  einen Teil des Endprodukts dieser Arbeit darstellten, auf der Bühne klar zu erkennen. Das Stück Minetti habe sie ausgewählt, weil der Text das Porträt eines Schauspielers sei und sich im Detail mit der Schauspielkunst beschäftige. Die Geschichte von Minetti verberge sich im Stück hinter vielen Masken und Marionetten, die seine Worte alle nach und nach verinnerlicht hätten.

Für mich ist Je suis un metteur en scène japonais ein kluges und enttarnendes Stück, das ernste und auch viele humorvolle Passagen enthält und insgesamt sehr sehenswert ist.

Die Villa am Rande der Zeit

Aus Filmen und Büchern wie Zurück in die Zukunft, Per Anhalter durch die Galaxis, Die Zeitmaschine oder Und täglich grüsst das Murmeltier weiß man, dass Zeitreisen wohl irgendwie möglich zu sein scheinen. Manchmal gelingt es offenbar mit Hilfe von Zeitmaschinen, in anderen Fällen passiert es wie aus heiterem Himmel. Natürlich kann das jeder persönlich für die mehr oder weniger glaubwürdige Fantasie mancher Autoren und Regisseure halten oder auch daran glauben, dass es wirklich möglich ist. Die Protagonisten aus dem Roman Die Villa am Rande der Zeit des serbischen Schriftstellers Goran Petrovic zumindest zweifeln nicht daran.

Fast alle im Roman von Goran Petrovic beschriebenen Personen sind begeisterte Leser. Mit Hilfe ihrer Bücher reisen sie in ihre Erinnerung oder machen Erfahrungen, die so real sind, dass sie mehr als nur reine Fantasie zu sein scheinen:

Ihre Verwirrung war so groß, dass sie sich später nicht mehr erinnern konnte, wie sie so weit hatte kommen können. Sicher, sie hatte sich auch früher eifrig bemüht, der alten Dame vom vorgegebenen aus zu folgen, Seite um Seite, Zeile für Zeile, Wort auf Wort. Dann war ihr auf einmal bewusst geworden, dass sie anstelle der aneinandergereihten Wörter eine Frau in einem schwingenden Kleid aus Rohseide vor sich sah, mit lässig über die Schulter geworfenem Schal, einem breitkrempigem Strohhut und einem Picknickkorb in der rechten Hand; eine Frau, die langsam, aber entschlossen einen Weg entlang schritt … Wie das möglich war, konnte sich Jelena nicht erklären. Und wie war sie auf diese karge, nur mit Gras bewachsene Anhöhe gelangt?

Jelena ist die Gesellschafterin der hochbetagten wohlhabenden Dame Natalja Dimitrijevic, die ihre Wohnung kaum noch verlässt, da sie sich ‘an allem satt gesehen’ hat. Sie verbringt die meiste Zeit bei der gemeinsamen Lektüre mit ihrer Gesellschafterin Jelena, auf die sie sich manchmal vorbereitet, wie auf einen Ausflug. Sie überrascht Jelena  beispielsweise in einem Reisekleid und mit gut gefülltem Picknickkorb, um ihrer Gesellschafterin dann nur fordernd ein aufgeschlagenes Buch hinzuhalten. Ein Verhalten, das Jelena anfangs staunen lässt, obwohl die große Bibliothek der alten Dame sie vom ersten Moment an sehr an einen Botanischen Garten denken lässt:

Jelena drängte sich der Eindruck auf, sich in einem Garten zu befinden. Wer weiß, vielleicht lag das an dem Spalier der vollgestellten Bücherregale, die jeden Quadratmeter der Wände bedeckten und sich vom blanken Boden – genauer gesagt von einem ausgetrockneten Parkett, das aus verspielten Intarsien in sämtlichen Rottönen meisterhaft zusammengesetzt war – bis zu der hohen Decke mit ihren schattigen Winkeln zogen. Oder an der bunten Blütenfülle aus Büchern, die, was man bei flüchtigem Hinsehen nicht bemerkte, in je zwei oder mehr Exemplaren vorhanden waren, so wie sich auch in der Natur hier der Wegerich vermehrt und dort die Triebe der Kornelkirsche hartnäckig emporschießen

Ohne es zu wissen ist Jelena in der Nationalbibliothek bereits Adam über den Weg gelaufen, einem Slawistik-Studenten und Lektor der Zeitschrift Die Schönheiten unseres Lebens. Er hat gerade den vielversprechenden Auftrag erhalten, ein Buch aus dem Jahr 1936 zu überarbeiten, das ihn auf unerwartete Weise mit Jelena verbindet. Ein Auftrag, bei dem sich erstaunliche Schwierigkeiten auftun. Kurz nach seinem Erscheinen ist es von einem anonymen Kritiker in einer Literaturzeitschrift verrissen worden und auch heute noch erweist sich die Beschäftigung mit dem Buch, das den Titel MEIN VERMÄCHTNIS trägt, als erstaunlich kompliziert.

Die Villa am Rande der Zeit erzählt einfühlsam und poetisch von interessanten Menschen, denen das Leben größtenteils nur mit Hilfe von Büchern gelingt. Darüber hinaus skizziert Goran Petrovic das Leben in Belgrad und Serbien fast durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch nach. Ein sehr lesenswertes Buch, das mit dem renommierten NIN-Preis ausgezeichnet worden ist.

Maori-Nacht

Er ist unauffällig mit dunklem Hemd und dunkler Hose bekleidet, hält eine Gitarre in der Hand und spricht Englisch. Von Weitem hat er vielleicht am ehesten Ähnlichkeit mit einem Country-Sänger. Doch der Klang seiner Gitarre, die Geschichte und die Art seines Vortrags bei der Maori-Nacht haben allenfalls entfernt etwas von dem, was den wilden Westen und seine Musik im Allgemeinen ausmacht. Die Klänge der Gitarre sind meist reine Untermalung für eine Geschichte, die von Walen, Kanus, dem Meer, dem Himmel, Wäldern und Menschen inmitten dieser urgewaltigen Natur handelt.

Insgesamt betrachtet hat dieser Geschichtenerzähler vielleicht mehr von einem Darsteller, als einem Musiker. Denn viele markante Sequenzen der Geschichte unterstreicht er nicht mit Klängen, sondern mit ausladenden und manchmal fast überdeutlichen Gesten. Die Geschichte wirkt dadurch ungemein lebendig und fesselnd. Selbst wenn ich nicht immer jedes Wort verstehe, kann ich der Geschichte problemlos folgen und bin mehr als sonst gespannt, wie es wohl weiter gehen mag. Der faszinierende Geschichtenerzähler heißt Joe Harawira und erzählt in diesem Moment gerade im Rahmen des internationalen literaturfestival berlin eine der unzähligen Geschichten der Maori auf traditionelle Weise.

Noch vor einigen Jahren sei es undenkbar gewesen, die alten Maori-Geschichten öffentlich vorzutragen, erklärt der gebürtige Neuseeländer Joe Harawira im Anschluss an seine Performance. Die Sprache der Maori sei im 19. Jahrhundert von der Kolonialmacht als heidnische Sprache eingestuft worden und habe an den Schulen nicht mehr unterrichtet werden dürfen. Erst in den 1980er Jahren habe eine Wiederbelebung der maorischen Sprachkultur eingesetzt und seit 1987 sei Maori wieder offizielle Landessprache in Neuseeland.

Traditionell habe ein Geschichtenerzähler innerhalb der Maori-Gesellschaft eine überaus wichtige Funktion, da er die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft verbinde. Die Maoris glaubten, dass sich ein Volk anhand der traditionellen Geschichten mit Hilfe der Vergangenheit besser für die Zukunft wappnen könne. Jeder habe seine persönliche Geschichte zu erzählen und indem man es tue, stelle man eine persönliche Verbindung zwischen sich, der Vergangenheit und der Gemeinschaft her.

Bücher seien generell eigentlich nicht die richtige Form, um Maori-Geschichten zu verbreiten, erklärt in dieser Nacht auch die neuseeländische Schriftstellerin und Literaturdozentin Cathie Dunsford. Vermutlich sei die Verbreitung der Maori-Erzählungen mit Hilfe von DVDs der geeignetste Weg. Cathie Dunsford zeigt beim internationalen literaturfestival berlin eine echte Performance, bestehend aus den dunklen vollen Klängen einer großen Muschel, in die ein Mundstück eingearbeitet worden ist, ergänzt durch Gesang und Erzählung. Obwohl sie ganz ähnliche Grundelemente verwendet wie Joe Harawira, hat ihre Darbietung eine ganz andere Stimmung und Tonlage. Mit Hilfe der Universität von Auckland, an der sie arbeite, seien sie dabei, neue und für die Maori-Kultur passende Wege der Präsentation ausfindig zu machen. Sie habe bereits gemeinsam mit anderen Maori-Frauen eine neue Form von Literatur entwickelt, die sich wahrscheinlich am ehesten mit Lyrik vergleichen ließe. Starke Frauen, die sich zum Wohl der Allgemeinheit engagierten, gehörten zur Tradition der Maori genauso wie deren ganz stark ausgeprägtes Umweltbewusstsein. Dabei gebe es trotz aller Gemeinsamkeiten zwischen den Maori auch teilweise groessere Unterschiede zwischen den einzelnen Stämmen. Dank der Geschichten könnten sie sich aber austauschen und hätten die Chance, eine Verständigung zwischen den Stämmen herzustellen. Insofern könne Literatur Anknüpfungspunkte für ein besseres Miteinander bieten. Unterschiede gebe es im Prinzip in allen Gesellschaften, sie selbst habe bei ihren Lesungen in Deutschland etwa Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen feststellen können. Über ihren Erfolg in Deutschland freue sie sich sehr und ganz besonders darüber, dass die Neuseeländer sich und ihre Kultur im Rahmen der Frankfurter Buchmesse präsentieren könnten.

Für eine neue Sicht auf die Geschichte und damit die Rolle der polynesischen Kultur hat vor allen Dingen James Belich mit einer Fernsehsendung über die Geschichte der Polynesier gesorgt, die auf einem seiner Bücher basiert hat. Beim internationalen literaturfestival berlin legt er dar, dass dadurch das Thema in die Öffentlichkeit gelangt sei und man in Folge dessen langsam begonnen habe, die Polynesier als ein Volk zu begreifen, das den halben Erdball bevölkert und geprägt habe. Nur mit Hilfe von Kanus sei es den Vorfahren der Polynesier gelungen, den gesamten Pazifik-Raum, von Hawaii bis Neuseeland zu bevölkern, eine unglaubliche Leistung. Sie seien nachweislich sogar bis Madagaskar und Süd-Amerika gelangt. Europäer sollten die Kultur der Polynesier respektieren.

Im Rahmen der Maori-Nacht betont auch Hamish Clayton, der im Gegensatz zu Joe Harawira und Cathie Dunsford ein neuseeländischer Schriftsteller ohne Maori-Vorfahren ist, Neuseeland sei ein Land mit zwei Kulturen. Die ersten Geschichten, an die er sich erinnere, seien Maori-Geschichten. Natürlich sei er auch mit den Geschichten über Koenig Arthur, Robin Hood oder Grimms Märchen aufgewachsen. Die Geschichten der Maori seien aber etwas ganz Besonderes, da sie keine Mythologie seien, sondern tatsächlich passiert wären.

Cathie Dunsford: Manawa Toa, Lied der Selkiesir.gif, Cowrieir.gif

Hamish Clayton: Wulfir.gif

James Belich: The Victorian Interpretation of the Racial Conflict: the British, the Maori and the New Zealand Warir.gif

James Belich: Making Peoples: A History of the New Zealanders until 1900ir.gif, Paradise Reforged. A History of the New Zealanders from The 1880ies to the Year 2000ir.gif, Replenishing the Earth. The Settler Revolutioon and the Rise of the Anglo-World, 1870ies-1920iesir.gif

Witi Ihmaera: Wale Riderir.gif

Paula Morris: Rangatirair.gif

Alan Duff: Warriorsir.gif

Peter Walker: Der junge William Foxir.gif

Die große Zukunft des Buches

In “Die große Zukunft des Buches” entwickeln Jean-Philippe Tonnac, Essayist und Journalist und Umberto Eco, Professor für Semiotik, Schriftsteller und Mittelalterexperte, sowie der Drehbuchautor und Schriftsteller Jean-Claude Carrière eine Perspektive für die Zukunft der Medienlandschaft. Generell sehen sie das Ältere nicht durch Veränderungen bedroht:

Das Ebook wird das Buch nicht töten. Ebenso wenig wie Gutenberg und seine geniale Erfindung von heute auf morgen den Gebrauch von Kodizes unterbunden hat oder den Handel mit Paryrusrollen und volumina. Die jeweiligen Praktiken und Gewohnheiten bestehen nebeneinander weiter, und nichts lieben wir mehr, als das Spektrum unserer Möglichkeiten zu erweitern. Hat der Film die Gemälde getötet? Das Fernsehen den Film? Willkommen seien daher Rechner und periphere Lesegeräte, die uns über einen einzigen Bildschirm Zugang zur mittlerweile digitalisierten Universalbibliothek gewähren

Sie stellen zum Beispiel fest, dass das Internet seine Nutzer in die Zeit des Alphabets zurück versetzt. Manche hätten früher fälschlicherweise angenommen, dass Film und Fernsehen das Lesen nahezu überflüssig machen würden. Doch das Gegenteil sei der Fall. Womöglich könnte es durch den Computer sogar eine Rückkehr zur oralen Tradition geben, ein bisschen wie zur Zeit Homers:

Wir würden eine Rückkehr zur Oralität erleben, wenn der Computer das, was wir sagen, direkt verarbeiten könnte

Als ein weiteres wichtiges Thema sehen sie die enormen Schwierigkeiten, dauerhafte Speichermöglichkeiten für unser kulturelles Gedächtnis zu finden. Alle Kulturen zu allen Zeiten hätten sich mit diesem Problem konfrontiert gesehen. Jean-Claude Carrière glaubt, dass auch heute nicht überall ein Interesse daran besteht, das Alte dauerhaft zu erhalten. Filme beispielsweise sollten immer wieder neu produziert werden:

Seit den zwanziger, dreißiger Jahren ist der Film in Europa zur >Siebten Kunst< avanciert. Seit damals hält man es jedenfalls für der Mühe wert, Kunstwerke zu bewahren, die nunmehr ein Teil der Kunstgeschichte sind. Aus diesem Grund entstanden die ersten Filmarchive, zunächst in Russland, dann in Frankreich. Aber aus amerikanischer Sicht ist der Film keine Kunst, noch heute gilt er dort als erneuerbares Produkt. Zorro, Nosferatu, Tarzan müssen immer wieder neu gemacht werden, die alten Vorbilder, die alten Bestände also weggeworfen werden. Das Alte, insbesondere wenn es von hoher Qualität ist, könnte dem neuen Produkt ja Konkurrenz machen

Durch all die Möglichkeiten, die den Menschen zur Verfügung ständen, lebten wir in einer Zeit ständiger Veränderung. Uns werde ständige Mobilität und permanentes Lernen aufgezwungen. Alle Gesprächsteilnehmer sind sich einig, dass es eine ganz zuverlässige Vorhersage für die Zukunft niemals geben kann. Die Geschichte sei voll solcher Irrtümer. Aber es gelingt den Gesprächsteilnehmern, die aktuellen Probleme mit vielen Anekdoten und sehr kenntnisreich in Zusammenhang zu den großen Fragen der Menschheit zu setzen und das Neue der Gegenwart als etwas zu enttarnen, das es in mehr oder weniger veränderter Weise immer schon gegeben hat.

Blutiger Sommer

In “Blutiger Sommer” von Gabriella Wollenhaupt und Friedemann Grenzen befinden wir uns im Jahr 1846 in Berlin. Dort stellt gerade ein Mann Frauen beim Baden im Fluss nach und im Judenviertel werden verstümmelte Frauenleichen gefunden. Justus von Kleist, der gerade die Jüdin Rachel aus Westfalen geheiratet hat und leitender Ermittler ist, liest zufällig bei einer gemeinsamen Spazierfahrt eine junge Frau auf, die vor dem Verbrecher fliehen konnte und das Gesicht des Mannes beschreiben kann.

Dennoch ist die Ermittlungsarbeit sehr schwierig. Es gibt noch keine DNA-Abgleiche und die Behörden sind ausschließlich auf Zeugenaussagen angewiesen. Ein Netz von Spitzeln durchzieht ganz Berlin und versorgt die Polizei mit mehr oder weniger zuverlässigen Informationen. Die Machtverhältnisse machen es der Polizei zusätzlich schwer, den richtigen Täter zu finden:

Ermittlungen der Polizei gegen Juden sind oft kompliziert und werden von vielen genau beobachtet. Die Vaterländischen jubeln, wenn es gegen die Juden geht, und die Liberalen des Jungen Deutschlandwarten darauf, dass die Polizei Fehler macht, um den Behörden Judenhass zu unterstellen. Der Polizeidirektor weiß, dass viele Polizisten tatsächlich antisemitisch eingestellt sind und dass Übergriffe keine Seltenheit sind. Diese Vorfälle werden oft von der Vossischen Zeitung angeprangert und pauschalisiert – was wiederum die amtlichen Zensoren alarmiert

Als auch eine adlige Dame unter den Todesopfern ist, dringt der Polizeipräsident von Puttkamer auf eine schnelle Lösung des Falles und lässt einen unschuldigen Mann verhaften. Als das Morden trotzdem weiter geht, gelingt es Justus von Kleist nur durch eine geschickte Intrige, die Ermittlungen gegen des Widerstand des Polizeipräsidenten wieder aufzunehmen.

Gabriella Wollenhaupt und Friedemann Grenz entwerfen ein unterhaltsames, spannendes und differenziertes Bild der politischen und sozialen Situation Preußens um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Einige Charaktere des Kriminalromans hat es wirklich gegeben. Ich finde Blutiger Sommer sehr aufschlussreich und lesenswert.

Kein Döner Land

Ungefähr bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr ist Cem Gülay kein Beispiel für eine gelungene Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in die deutsche Gesellschaft. Im Klappentext zu “Kein Döner Land” heißt es dazu kurz: Das Gastarbeiterkind aus Hamburg habe sich nach dem Abitur für eine kriminelle Karriere im Warentermingeschäft entschieden. Diesen Abschnitt seines Lebens hat Cem Gülay zusammen mit Helmut Kuhn in der Autobiografie “Türken-Sam. Eine deutsche Gangsterkarriere” ausführlich dargestellt. Die Autobiografie ist die Grundlage für “Kein Döner Land. Kurze Interviews mit fiesen Migranten”Cem Gülay und Helmut Kuhn halten hier Reaktionen auf das erste Buch fest.

Zu seinem eigenen Erstaunen wird Cem Gülay nach dem Erscheinen seiner Autobiografie zu vielen Lesungen, Diskussionsrunden und Festen eingeladen. Nicht immer sind die meist gut gemeinten Veranstaltungen wirklich zahlreich besucht, wie etwa das Festival Kulturbunt im Allgäu:

Ein Riesenaufwand. Sie tanzten, bimmelten und sangen in den wildesten Outfits. Ein kunterbunter Karneval der Kulturen beinahe wie in Berlin-Kreuzberg. Aber stell dir vor, es ist Karneval – und niemand geht hin. Das Fest war ein völliger Flop. Weil es beide Seiten offenbar nicht interessierte – weder die Einheimischen noch die Migranten. In den riesigen Zelten tanzten die Folkloregruppen vor fünf Zuschauern

Am Ende muss die Veranstalterin getröstet werden. Aber es gibt sie wirklich, die vielen Menschen an unterschiedlichsten Orten, die sich für Cem Gülay und seinen Ausstieg aus dem Gangstermilieu interessieren: Schulen, die Bundeszentrale für politische Bildung, die Talkshow Anne Will, ein politisch inkorrektes Blog und viele Migranten. Das Problem scheint in der Stadt und auf dem Land fast identisch zu sein:

Man erkennt sie schon von Weitem. An den billigen Klamotten. An den Kampfhaarschnitten. Am schlechten Gangsterrap-Geschmack. Sie sehen überall gleich aus, vom Norden bis in den Süden. Sie erben gar nichts. Sie haben keine Zukunft. Wer aus der Nordstadt kommt, gilt in Gießen, der Studentenstadt, als Verlierer. So ist das. Ein reines No-Future-Gebiet. Lauter Überflüssige

Cem Gülay wird zu einem regelrechten Sozialarbeiter, etwas, das er früher überwiegend lächerlich fand. Doch er spürt die Hilflosigkeit auf beiden Seiten und dass sich die meisten von ihm Lösungsvorschläge erhoffen. Den jungen Migranten gibt er Tipps, wie sie besser zurecht kommen können und nicht  kriminell werden. Viel Mühe hat er auch mit manch einem Anti-Gewalt-Pädagogen:

Ich sagte ihm: Du musst konfrontativ sein, Du musst dich gerade machen. Dich auch mal streiten, aggressiv sein. Du musst dir Respekt verschaffen. Wenn du nur eine Lusche bist, bist du für sie eine verschwuchtelte Kartoffel. Darauf stehen sie gar nicht

Er entwickelt gemeinsam mit einem Schulleiter erfolgreich den Beruf des ‘Sozialsheriffs’, erklärt sein zwiespältiges Verhältnis zur Religion, beschreibt die türkischstämmigen Frauen und warum Deutschtürken ihre sämtlichen deutschen Mitbürger verächtlich als Bio-Deutsche bezeichnen, wie Mädchen sich türkischen Machos gegenüber verhalten sollten oder wie man zumindest einige Jugendliche dazu bringen kann, auf Gewalt zu verzichten. Außerdem zeigt er, wie und wo Migranten benachteiligt werden, dass es auch echte Vorzeige-Migranten gibt und zeichnet insgesamt gemeinsam mit seinem Co-Autor auf unterhaltsame Weise ein sehr vielfältiges Bild seiner Erfahrungen und damit der Migranten in diesem Land.