Life and Times, Episode 2

Bei Life and Times – Episode 2 von Nature Theater of Oklahoma gibt es kein Bühnenbild und fast überhaupt keine Requisiten. Den größten Teil des Stückes über sind nur die Hauptdarsteller in ihren grellbunten Jogginganzügen vor schwarzem Hintergrund zu sehen, eingerahmt von zwei Flatscreens am rechten und linken Ende der Bühne. Auf den Screens ist der englische und der ins Deutsche übersetzte Text des Stückes zu lesen. Die Darsteller singen den Text schief und schräg zu eingängiger, schlicht konstruierter elektronischer Musik. Manchmal tanzen sie dazu mehr oder weniger unbeholfen. Alles wirkt überhaupt nicht professionell und gekonnt.

Von meinem Platz im hinteren Teil des Zuschauerraums kann ich den Text auf dem Flatscreen nicht immer lesen, kann aber erkennen, dass dort selten zusammenhängende Sätze zu lesen sind. Es gibt viele Ehs, Ähs und sonstige Füllwörter, grammatische Fehler, abrupte Unterbrechungen, unerwartete Themenwechsel und dann doch wieder Passagen, in denen verständlich kleine Geschichten  und Anekdoten erzählt werden. Gerade die Ehs und Ähs werden von den Darstellern häufig mit ganz besonders viel Dramatik intoniert.

Kelly Copper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma haben  sich für das Stück von der jetzt 34-jährigen US-Amerikanerin Kristin Worrall ihre Lebensgeschichte am Telefon erzählen lassen und das Gespräch aufgenommen. Das Libretto des Stücks bildet der aufgezeichnete umgangssprachliche Text ohne Korrekturen. In Life and Times – Episode 2geht es um die Zeit zwischen der dritten und der sechsten Schulklasse, nach der in den USA der Wechsel von der Grundschule auf die High-School statt findet.

Szene aus "Life and Times, Episode 2"

Der Text ist humorvoll, es geht um alberne Streitereien mit Freundinnen, das Verhalten von Lehrern, Verliebtheiten, die erste Musik, für die man sich interessiert hat, das Verhältnis zu den Eltern, Bockigkeiten, die man selbst von sich falsch fand, wie man den Vater mit einem Playboy-Heft erwischt und es dann auch selbst mal gelesen hat, wie und wann man angefangen hat, sich für Mode und Klamotten zu interessieren, Filme, die man zu einer bestimmten Zeit gesehen hat, wie man auf die Rassenproblematik Aufmerksam geworden ist, wie man sich zum ersten Mal als richtiger Loser gefühlt hat, erste Erfahrungen mit Alkohol, verhaltensauffällige Mitschüler, der Selbstmord eines Bekannten und dass man eigentlich immer darauf gehofft hat, endlich erwachsen und raus aus der Schule zu sein. Die Darsteller wechseln sich bei der Erzählung ab, so dass der Eindruck entstehen könnte, ein homosexueller Mann und mehrere Frauen erzählten dem Publikum ihre Lebensgeschichten, die nichts miteinander zu tun haben.

Genauso wie der Text ist auch die Musik bei genauerer Betrachtung eine Reise durch verschiedene Stile der Musikgeschichte von den 80ern bis in die frühen 90er. Dabei hat sie immer etwas von dem eingängigen Sound, den man auf einer Kirmes oder in einer Karaokebar hören kann. Wahrscheinlich auch deswegen hatte ich als Zuschauer sofort den Eindruck, dass eigentlich jeder aus dem Stehgreif auf der Bühne mitmachen könnte. Und tatsächlich sind auch ein paar Laiendarsteller aus dem Ruhrgebiet für die Aufführung geachtet worden, die sich nahtlos einfügen. Die Lebensgeschichte von  Kristin Worrall, die der weißen Mittelschicht entstammt, ist ist eben nicht nur typisch für solch ein Leben in den USA. In der einen oder anderen Anekdote dürfte sich jeder wieder erkannt haben. Insofern ist Life and Times – Episode 2 für mich humorvolles Theater auf Augenhöhe mit dem Zuschauer, das jeden zumindest ein bisschen mit auf die Bühne holt.

Alle Fotos: © Anna Stoecher

FOLK

Für die Besucher von Romeo Castelluccis FOLK. gibt es keine Sitzplätze. Viele schauen sich irritiert um, suchen sich aber ohne viel Worte einen Stehplatz am Rande des riesigen, aufblasbaren Bassins, das fast die ganze Gebläsehalle des Landschaftspark Duisburg-Nord ausfüllt. Unwillkürlich rücken wir alle ein bisschen zusammen, sehen uns genau um, versichern uns gegenseitig, dass in dem riesigen Becken unmittelbar vor uns warmes Wasser ist und warten ab.

Szene aus FOLK im Rahmen der RuhrtriennaleNach einer Weile steigt plötzlich steigt ein voll bekleideter Mann in das Becken und läuft im hüfthohen Wasser langsam auf die Mitte des Beckens zu. Eine Frau am anderen Ende tut es ihm gleich. Beide sind normal gekleidet und unterscheiden sich nicht von den Zuschauern. In der Mitte angekommen, umarmen sich Mann und Frau lange und scheinen sehr glücklich, sich gefunden zu haben. Schließlich helfen sie einander, rücklings und mit zugehaltener Nase unterzutauchen. Um das Becken herum stehen lauter Menschen, aber die beiden im Wasser sind vollkommen alleine mit sich. Sie sprechen überhaupt gar nicht, noch nicht einmal miteinander, sondern bedeuten sich durch Gesten und Körperkontakt, was zu tun ist. Nachdem beide vollkommen untergetaucht sind, umarmen sie sich noch herzlicher als vorher.

Romeo Castellucci sagt beim tumbletalk, dem Gesprächsformat der Ruhrtriennale, es sei ihm eigentlich unmöglich, über den Prozess der Entstehung seiner Stücke zu sprechen. Ihm selbst sei nicht klar, wo genau seine Ideen her kämen. Sagen könne er aber, dass der Ausgangspunkt immer Alltägliches sei. Er erinnere sich, dass er im Auto eine CD über Taufen im Mississippi angehört habe, die seine Idee entzündet hätte. Ihn interessiere die gesellschaftliche Funktion dieses Rituals, das immer seltener werde. In seinem Stück sei es ein Ritual, das ohne Gott statt finde und deswegen leer bleibe. Doch ein Ritus drücke immer aus, wie Gesellschaft sich bilde.

Szene aus FOLK im Rahmen der RuhrtriennaleDie Gesten des Mannes zum Abschied sind herzlich. Doch schließlich geht er zurück zum Rand des Beckens und verlässt es wieder. Die Frau bleibt allein in der Mitte des Beckens zurück als warte sie. Als eine andere Person wieder vollbekleidet über den Rand des Bassins klettert ermuntert sie sie mit offenen Armen, zu ihr zu kommen. Etwas zögerlich läuft die andere Person in die Mitte des Beckens und umarmt die Frau. Sie hilft der anderen Person wie schon zuvor, rücklings ganz unterzutauchen. Dann umarmen sie sich wieder lange und emotional.

Dieser Vorgang wiederholt sich viel Male. Es bleibt immer die Person zurück, die als letzte untergetaucht ist, nimmt eine andere in Empfang und wiederholt das Ritual. Obwohl sich alle in der Mitte des Beckens zum ersten Mal zu begegnen scheinen, wird jeder herzlich und mit offenen Armen empfangen. Manche erscheinen zunächst traurig und besorgt auf ihrem Weg in die Mitte. Das Untertauchen macht gerade diese Menschen lebendiger, fröhlicher und unbeschwerter. Es ist offensichtlich eine sehr positive Erfahrung. Dabei bleiben die zwei im Becken die ganze Zeit über allein, niemand sonst mischt sich ein. Dazu erklingt wie aus dem Nichts ein sanft und melodisch singenden Frauenchor.

Romeo Castellucci erklärt, das Wasser sei immer als wichtigstes Element gesehen worden und als Mittel und Medium der Kommunikation. Es sei ein berührbarer Ausdruck der Gemeinschaft und mache die Beziehungen sichtbar, die wichtig und vielleicht auch gefährlich seien. Da es ihm um diese Beziehungen in einem Volk beziehungsweise in einer Gemeinschaft gehe, wolle er nicht mit professionellen Schauspielern arbeiten. Ein echtes Volk solle zum Mittelpunkt des Stückes werden. Deswegen entspräche auch die Anzahl der Statisten der des Publikums. Es sei immer wieder vorgekommen, dass einer der Besucher in das Bassin gestiegen und sich am Ritual beteiligt habe. Der Besucher selbst könne in FOLK. zum Protagonisten werden. Dem Prinzip des Zufalls und der Unordnung wolle er in seinem Stück Platz einräumen.

Szene aus FOLK im Rahmen der RuhrtriennaleAls es irgendwann einen lauten Schlag aus dem oberen Teil des Raumes gibt, nehme ich die Rundbogenfenster hoch oben unter der Decke erst richtig wahr. Wir zucken alle erschrocken zusammen und schauen uns ratlos an. Als kurz darauf mehrere donnerartige Schläge ertönen, bemerken wir, dass sich oben gegen die Fenster schattenartige Gestalten mit ihrem ganzen Körper werfen. Wir beruhigen uns langsam wieder, obwohl sich immer mehr solcher Gestalten gegen die Fenster werfen und das Donnern eher noch lauter wird. Das Ritual geht dabei die ganze Zeit weiter. Die beiden im Bassin scheinen von dem Krach gar nichts zu bemerken.

Der Lärm wird immer unerträglicher. Man kann die Donnerschläge physisch spüren. Irgendwann stehen sich zwei Männer im Bassin gegenüber und führen das Ritual nicht weiter. Sobald niemand mehr im Wasser ist, sticht einer der Männer in das aufblasbare Bassin. Das Wasser ergießt sich sintflutartig in die Halle. Wir suchen am Rand Schutz vor dem Wasser. Dröhnend erklingt die Musik einer Kirchenorgel. Der Mann, der das Bassin zerstört hat, schneidet nach und nach die leere Hülle das Bassin in zwei Teile. Sie werden in die Höhe gehoben. Danach sitzt ein Mann ganz allein vor einem Tisch, auf dem sich eine Art Puzzle befindet. Er muss unterschiedliche Formen zusammen fügen. Es kostet ihn offensichtlich viel Mühe. Schließlich schmeißt er das letzte Teil weg und verlässt den Raum.

Szene aus FOLK im Rahmen der RuhrtriennaleBeim tumbletalk heißt es, viele Zuschauer hätten nicht verständen, warum das Stück auf einmal zu Ende seiRomeo Castellucci meint, es sei nicht die Aufgabe der Kunst, Bedeutungen zu schaffen. Darin liege eher eine große Gefahr. Es sei grundsätzlich nicht möglich, einem Kunstwerk eine klare Deutung zu geben. Für einen Künstler gehe es darum, etwas zu schaffen, das notwendig sei. Der Zuschauer sei eine Art Detektiv, der die einzelnen Teile des Theaterstücks wieder zusammen setzen müsse. So erschaffe es einen Kontakt zum Zuschauer. Die menschliche Wahrnehmung liege allein im Körper des einzelnen Menschen und hänge von ihm ab. Da Menschen etwa unterschiedliche Erfahrungen oder Ausbildungen hätten, nähmen sie manches unterschiedlich wahr, es gebe nie nur eine Wahrheit. Die Reaktion des Publikums ließe sich auch niemals planen, er lasse sich davon überraschen. Es tue ihm Leid, dass sich manchmal Menschen durch seine Arbeit provoziert fühlten. Das sei nicht seine Absicht und nehme dem Stück womöglich etwas weg. Grundsätzlich gebe es im Theater einen Widerstreit von These und Antithese ohne Auflösung. Außer im orientalischen und japanischen Theater rekurriere jedes im Theater aufgeführte Stück immer auf die griechische Tragödie. Deren Kern sei die Leere voller Kälte. Der griechischen Tragödie entspringe das Recht, das sich erst nach dem Ende der Götter durchsetzen könne. Das Theater sei der menschliche Ausdruck, der dem Leben am nächsten sei, man mache gemeinsame Erfahrungen zur selben Zeit.

FOLK. arbeitet mit vielen Sinneseindrücken und macht Erfahrungen sehr unmittelbar. Für mich war nichts vorhersehbar. Ich war nicht nur passiver Zuschauer, sondern konnte tatsächlich den Schutz spüren, den menschliche Gesellschaft in einer unvertrauten Situation bieten kann und damit, was den Ursprung aller Gemeinschaft ausmacht.

Zwischen zwei Scheiben Glück

In Zwischen zwei Scheiben Glück von Irene Dische hat Peters Vater Laszlo eine bemerkenswert lebensfrohe und positive Herangehensweise an alle Dinge. Als ihm seine junge Geliebte Dalia unter Tränen gesteht, sie sei schwanger, stürmt er sofort nach Hause und zündet mehrere Feuerwerksknaller, die er sich für einen besonderen Moment zurück gelegt hatte. Kein Wunder, dass auch das Hochzeitsfest ein ‘fröhliches, ausgelassenes Fest’ wird, bei dem sich sogar Laszlos Vater gut amüsiert.

Schon häufig hat sich der Vater darüber beschwert, dass ihm sein Sohn fremd sei. Laszlo sei ein Heißsporn und habe kein Talent zur Mäßigung. Aber er erhöht den monatlichen Unterhalt, damit Laszlo, während er in Budapest das Jurastudium abschließt, seine Familie versorgen kann. Doch das Familienglück währt nicht lang. Ausgerechnet in dem Auto, dass Laszlos Vater ihm aus Freude über den neuen gut bezahlten Posten im diplomatischen Dienst schenkt, kommt Dalia durch einen Unfall ums Leben. Laszlo selbst überlebt mit ein paar Schrammen und trauert eine Weile sehr um seine Frau:

Dalias Tod machte Laszlo Nagel für eine Weile sehr traurig. Aber dann schlug sein Naturell wieder durch. Er konnte es nicht ändern, er liebte das Lebendigsein. In Budapest galt er schon bald als lustiger Witwer

Laszlo verbringt viel Zeit mit seinem Sohn Peter, dem er erzählt, er habe ihn in einem Spezialgeschäft für rothaarige Kinder gekauft und dass er einen Vater habe, der ein Glückspilz sei. Sie erkunden die Umgebung gemeinsam auf eine ihnen eigene Weise und Peter liebt seinen Vater abgöttisch. Eines Abends flüstert Laszlo seinem Sohn vor dem Einschlafen zu:

Auf jeden Fall weiß ich, dass du deinen eigenen Kopf haben wirst, wenn du groß bist. Du wirst vor nichts Angst haben. Nicht einmal vor dem Sterben. Aber vor allem wirst du gern leben. O ja, du wirst das Leben genießen

Laszlo und sein Sohn erkunden die Stadt ausgiebig. Sie gehen gemeinsam zu vielen Veranstaltungen, Festen oder auch ins Kino. Schon bald werden sie mit den Auswirkungen der Nazi-Herrschaft konfrontiert und entwickeln ihren eigenen ganz speziellen Umgang mit den Gegebenheiten. Zwischen zwei Scheiben Glück, ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, ist ein sehr humorvolles und fürsorgliches Buch, dem es gelingt, seine Leser mit der Lebensfreude der Charaktere anzustecken.

Die Unperfekten

In Die Unperfekten von Tom Rachman liest Ornella de Monterecchi jeden Tag in der Zeitung. Sie ist die Witwe eines italienischen Diplomaten und die englischsprachige internationale Zeitung gibt ihr Halt, seitdem ihr Mann 1976 nach Riad versetzt worden ist. Jetzt lebt sie wieder in Rom und hat immer noch ein Abonnement der Zeitung. Aber Ornella de Monterecchi liest niemals die aktuelle Ausgabe, sie bedient sich aus ihrem riesigen Zeitungsarchiv:

Aus Langeweile hatte sie angefangen, die Zeitung zu lesen, eines der wenigen internationalen Presseerzeugnisse, die in den späten Siebzigern im saudischen Königreich zugänglich waren. Und weil sie nie gelernt hatte, wie man eine Zeitung richtig liest, las sie alles der Reihe nach wie bei einem Buch, Spalte für Spalte, von links nach rechts, eine Seite nach der anderen. Sie las jeden Artikel und fing keinen neuen an, bevor sie den anderen durch hatte, wodurch sie für jede Ausgabe mehrere Tage brauchte. Anfangs fand sie vieles verwirrend

Als die Verleger die Zeitung einstellen, da sie über viele Jahre Verluste gebracht hat, will Ornella de Monterecchi darauf dringen, dass sie weiter erscheint. Doch der Portier kann ihr nur noch die leer geräumten Redaktionsräume zeigen.

Ornella de Monterecchi ist eine von elf Personen aus dem Umfeld der in Rom redaktionell betreuten US-amerikanischen Zeitung, deren Niedergang Tom Rachman in Die Unperfekten beschreibt. Es sind aufmerksame und sehr detailreiche Porträts, die einen Augenblick in dem Leben der Personen beschreiben, der fast immer eine entscheidend fatale Wende bringt. Dabei ist die Erzählpersepektive niemals aburteilend, sondern beleuchtet die verschiedenen Facetten der Charaktere meist mit viel Verständnis.

Beispielsweise beschreibt Tom Rachman den Lebemann und Frauenheld Lloyd Burko, der die Zeitung seit ihren Anfängen kurz nach dem II. Weltkrieg mit Artikeln aus Paris versorgt. Jetzt hat seine vierte Frau einen Liebhaber, seine Kinder wollen keinen Kontakt mehr zu ihm und er ist pleite, denn er schafft es nicht mehr, Artikel an die Zeitung zu verkaufen. Arthur Gopal hingegen ist der Sohn eines berühmten Journalisten, der selbst nie wirklich über die Betreuung der Rubrik Rätsel-Brezel hinaus gekommen ist. Erst der Tod seiner Tochter könnte beruflich eine Wende einleiten. Beruflich sehr erfolgreich ist andererseits der Nachrichtenchef der Zeitung. Seit ein paar Jahren hat er auch eine glückliche Beziehung, aber dann erfährt die ganze Redaktion von dem einmaligen Seitensprung seiner Lebensgefährtin inklusive Nacktfoto per Email.

Am Ende der insgesamt elf Porträts gibt es auch einen Text, der die Geschichte der Zeitung von ihren Anfängen bis in die Gegenwart beschreibt. Dadurch wird klar, dass nicht die Stärken und Schwächen der unperfekten Redaktionsmitglieder den Bankrott der Zeitung hervor rufen, sondern dass die wirtschaftliche Lage der Zeitung bereits vor rund zwanzig Jahren schwierig war:

Anfang der neunziger Jahre begann der Erfolg der Zeitung unter Milton Berber abzuflauen – wie die gesamte Branche hatte auch die Zeitung mit einem Rückgang der Leserschaft zu kämpfen. Erst hatte das Fernsehen den Zeitungen jahrelang das Wasser abgegraben, dann hatten ihnen die Nachrichtenkanäle, die vierundzwanzig Stunden am Tag sendeten, den nächsten Schlag versetzt. Morgenblätter, die am Nachmittag davor gemacht wurden, waren nicht mehr aktuell genug

Mit diesem Erklärungen versucht der Vertreter der Verlegerfamilie die entsetzten Redaktionsmitglieder zu beschwichtigen. Er selbst hat die Zeitung noch nie gelesen und wollte beruflich eigentlich immer etwas ganz anderes machen.

Nikolas Nickelby

Nach dem Tod des Vaters von Nikolas Nickelby ist seine Witwe mittellos und gerät mit ihren beiden Kindern in die Hände des Bruders ihres toten Mannes. Ralph Nickelby ist Geschäftsmann, lebt in London und nach vielen Jahren harter Arbeit gelingen mittlerweile die meisten seiner Investitionen. Beteiligt ist er etwa an Geschäften wie der über Nacht aus dem Boden gestampften “Vereinigte, verbesserte, hauptstädtische Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktliche Ablieferungsgesellschaft”, die nach Ansicht eines Initiators schon allein wegen des Namens zu einem herausragenden Erfolg werden müsse und deren Aktien “in zehn Tagen über pari stehen” sollten. Mit viel Humor beschreibt Charles Dickens, wie das Unternehmen mit einer rührseligen Rede im Parlament vorgestellt wird und danach als etabliert bezeichnet werden kann:

Sodann stand Mr. Bonney auf, um die erste Resolution zu beantragen, fuhr sich mit der Rechten durch die Haare, pflanzte die Linke zierlich in die Hüfte, vertraute seinen Hut der Sorgfalt des Herren mit dem Doppelkinn an, der außerdem auch noch die Weinflaschen für die Redner bereithielt, und erklärte, dass die anwesende Versammlung nur mit Besorgnis und Unruhe auf den gegenwärtigen Stand des Semmelhandels in der Hauptstadt und deren Nachbarschaft  blicken könne, – dass die Semmeljungen, wie sie gegenwärtig beschaffen seien, das Vertrauen des Publikums ganz und gar nicht verdienten, und dass überhaupt das ganze Semmelsytem ebenso nachteilig für die Gesundheit und Sittlichkeit des Volkes wie verderblich für die höchsten Interessen einer Großstadt wären. Die Rede des ehrenwerten Herren entlockte den zuhörenden Damen reichlich Tränen und weckte bei allen Anwesenden die lebhaftesten Empfindungen

Ralph Nickleby ist wenig begeistert, die Familie seines Bruder durchbringen zu müssen. Er besorgt Nikolas und dessen Schwester Kate Arbeit in seinem Bekanntenkreis. Nikolas ist zunächst Hilfslehrer in einer sogenannten ‘Schule’ außerhalb Londons. Die Kinder werden misshandelt, bekommen nicht genug zu essen und sind dadurch körperlich gezeichnet:

Und erst die Zöglinge! Die jungen Aristokraten! Die letzten schwachen Hoffnungsstrahlen, der entfernteste Lichtblick einer Möglichkeit, dass erste Bemühungen in dieser Höhle des Elends je etwas Gutes erzielen könnten, schwanden aus Nikolas’ Seele, als er mit Schrecken der Wirklichkeit ansichtig wurde. Bleiche, abgezehrte Gesichter, hagere Gerippe, Kinder mit den Zügen von Greisen, Missgestalten mit eisernen Schienen an den Gliedern, Knaben im Wachstum unterdrückt, und andere deren lange, dünne Beinchen die gebeugten Körper kaum zu tragen vermochten, drängten sich vor seinen Blicken

Diese Schilderungen beruhen offenbar auf Tatsachen. Rudolf Beck erklärt im Nachwort, dass der Roman Nikolas Nickleby nicht nur so erfolgreich gewesen ist, dass ein Groschenheft-Verleger Charles Dickens durch einen Text mit dem Titel Nickelas Nickelbery Konkurrenz zu machen versucht hat, sondern dass auch die Times im Jahr 1823 Zeitungsberichte über die Zustände in Privatschulen veröffentlicht hat, die den Beschreibungen im Roman ähneln. In der Folge haben viele Schulen schließen müssen.

Im Roman muss Nikolas Nickleby die ‘Schule’ nach relativ kurzer Zeit wieder verlassen, nachdem er in eine körperliche Auseinandersetzung mit dem Eigentümer geraten ist. Auf Wunsch seines Onkels darf er nicht bei seiner Familie bleiben und kommt bei einem umherreisenden Theaterensemble unter, wo er ein Theaterstück schreibt und als Schauspieler arbeitet. Auch seine Schwester Kate hat wenig Glück in der Berufswelt. Im Salon einer Putzmacherin ist sie den Zudringlichkeiten des Ehemanns der Chefin und den Eifersüchteleien der Kolleginnen ausgesetzt. Mit viel Mühe gelingt es nach ihrem Rauswurf, sie als Gesellschafterin einer vermögenden Dame unterzubringen. Aber auch dort kann sie nicht lange bleiben.

Trotz aller Schwierigkeiten gibt es am Ende ein Happy End. Beiden Geschwistern gelingt es, zu heiraten und sie leben beieinander in einigermaßen geordneten finanziellen Verhältnissen. Sogar die Witwe Mrs. Nickleby gewinnt noch einmal einen Verehrer für sich:

Kate war nicht wenig verwirrt und wollte ihre Mutter eben um nähere Erklärung bitten, als sich abermals dasselbe Geheul vernehmen ließ und überdies ein Lärm, als wenn ein älterer Herr ungestüm in losem Sande herumtrample. Und dann sah man plötzlich mit der Geschwindigkeit einer Rakete eine große Gurke durch die Luft fliegen, sich überschlagen und zu Mrs. Nicklebys Füßen niederfallen. Diesem höchst seltsamen Meteor folgte bald ein ähnlicher, nämlich eine schöne Kürbismelone von ungewöhnlichem Umfang. Gleich darauf flogen mehrere Gurken zusammen auf, gefolgt von einem Schauer Zwiebeln und ähnlichen Küchenkräutern, dass sich fast der Himmel verdunkelte, bis sie nach allen Richtungen niederfielen und auf dem Boden herumkollerten

Begleitet werden diese regelmäßigen Aktionen des Nachbarn von Liebesschwüren, die Mrs. Nickleby jedoch einfühlsam mit Hinweis auf die Verpflichtungen ihren Kindern gegenüber zurückweist.

Der Roman Nikolas Nickleby ist ein echter Wälzer von mehr als 1.000 Seiten, der gerade durch die sprachgewandte Übersetzung von Gustav Meyrink an vielen Stellen viel Spaß beim Lesen macht. Der für seine sozialkritischen Bücher berühmte Charles Dickens hat zwar 2012 seinen zweihundertsten Geburtstag gefeiert, dennoch könnten viele der von ihm in Nikolas Nickleby beschriebenen Szenen auch heute in ähnlicher Weise geschehen.

Teufels Brüder

Die Handlung erstreckt sich über drei Tage des Jahres 1522, vom 22. Juni bis 24. Juni. Die Perspektiven und Erlebnisse der unterschiedlichsten Menschen werden nachgezeichnet, etwa die eines gefolterten Mönchs, eines Theologen, die eines Anhängers der schwarzen Magie oder einer Fürstin. Die Ereignisse in Teufels Brüder von Burkhardt Gorissen sind zwar frei erfunden, beruhen aber auf historischen Fakten.

Es ist die Zeit der Reformation, Europa befindet sich in einem Machtkampf. Weltliche und kirchliche Macht sind eng miteinander verknüpft und ringen mit- und gegeneinander. Gerade ist der junge Karl V. zum neuen König gekrönt worden, aber er ist womöglich zu schwach, das Herrschaftsgebiet zusammen zu halten. Dem Volk geht es schlecht, von den Bauern werden zu viele Abgaben verlangt und im Extremfall mit Gewalt abgerungen. Die römisch-katholische Kirche ist stark reformbedürftig und häufig nicht mehr in der Lage, ihre Moral glaubwürdig zu vertreten:

Einige Männer der Kirche sind weniger Diener Gottes als Sklaven der weltlichen Genüsse. Ihre Machtgelüste hängen nicht mit der inneren Zerrissenheit des Reiches zusammen, sondern mit der inneren Zerrissenheit der Bischöfe und Kardinäle selbst, die die Kirche Christi für eine Markthalle halten, in der sie mit Ablässen handeln können,

erklärt der Kirchenmann Custodis dem Theologen und ehrlichen Christen Cornelius Berthelot. Das Schlimme sei, der Mönch Martin Luther habe Recht: Eine Reform der Kirche sei längst überfällig.

Zu diesem Zeitpunkt hat Berthelot bereits der Brief eines ehemaligen Studienkollegen aus Padua erreicht. Den Inhalt empfindet Berthelot als deutlich bedrohlicher: Der Fürst von Gelderland hat sich der geheimen Bruderschaft S.O.L. angeschlossen. In diesem Gebiet befindet sich auch die Universität von Leuven, an der Berthelot lehrt. Die geheime Bruderschaft plane eine neue Weltordnung, huldige der schwarzen Magie und bringe womöglich sogar Menschenopfer. Außerdem setze sie alles daran, den Liber Secretus in die Hände zu bekommen, von dem es heiße, Satan habe ihn Nero diktiert. Der Liber Secretus solle Anleitungen zur Entfesselung des Bösen enhalten. Berthelot müsse sein ganzes Geschick anwenden, um das Schlimmste zu verhindern. Denn ein wichtiger Vertreter der gefährlichen Bruderschaft sei ein weiterer ehemaliger Studienkollege: Pelagius Prelati.

Am Hofe des Fürsten von Gelderland, wo Prelati es zum engsten Vertrauten des machtbesessenen Regenten gebracht hat, ist man zutiefst beeindruckt:

Ohne Zweifel war er der Mittelpunkt des Hofes. Immer umwehte ihn der Hauch der Sensation, irgendetwas Unbegreifliches, Nichtfassbares, das einer höhreren Spähre zu entstammen schien, das allerdings nicht die Reinheit des Himmels atmete, sondern die Geworfenheit des Dämonischen verriet. Niemand wusste etwas über seine Vergangenheit, allerlei Gerüchte umrankten ihn

Es stellt sich heraus, dass Prelati dem Fürsten von Gelderland mit Hilfe der schwarzen Magie des Liber Secretus zur Macht über Mitteleuropa verhelfen will. Zu diesem Zweck versucht er offenbar, auch Kirchenmänner heimlich auf seine Seite zu ziehen. Bekannt ist, dass diejenigen Kirchenleute, die von dem Buch wissen, verfolgt werden. Offenbar versuchen Prelatis Schergen ihnen ihr Wissen über das magische Buch mit Folter wieder zu entreißen:

Durch die Jahrhunderte war viel Blut in die Felder von Burgundisch-Flandern gesickert. Kaum hatten sich die Machtverhältnisse verschoben, forderten neue Herrscher weiteren Blutzoll. Eine endlose Geschichte von Mut, Elend, Feigheit und Verbrechen – und sie geschah in jeder Generation

Kenntnisreich und mit viel Einfühlungsvermögen in die unterschiedlichen Charaktere zeichnet Burkhardt Gorissen die zum Teil blutigen Ereignisse mit vielen Details aus den unterschiedlichen Perspektiven sehr lesenswert nach.

Die Kreuzfahrerin

Alle trugen rote Stoffstreifen über Kreuz an ihre Brust geheftet. Einige saßen an ihren Feuerstellen, andere schienen mit Packen beschäftigt. Hier herrschte fast noch mehr Bewegung als auf den Gassen der Stadt. Ursula sah nicht nur Männer, sondern zu ihrem Erstaunen viele Frauen und Kinder. Die Kleider der Leute waren ärmlich, viele der Zelte schienen provisorisch. Sie hatte mehr Wagen und Karren erwartet, aber es sah so aus, als seien die meisten losgezogen mit kaum mehr als ihren eigenen Kleidern am Leib

Das ist der erste Eindruck der Protagonistin Ursula in Stefan Nowickis Roman Die Kreuzfahrerin von den Reisegenossen. Sie sind so wie sie dem Ruf des Predigers Peter dem Einsiedler gefolgt. Sie möchten nach Jerusalem pilgern, um so von allen Sünden befreit zu werden. Vorher hat es in Regensburg, wo Ursula lebt, einen schrecklichen Vorfall gegeben: Die Pilger haben die jüdische Bevölkerung dazu zwingen wollen, zum christlichen Glauben überzutreten und unter denen, die sich geweigert haben, ein Blutbad angerichtet. Außerdem haben sie das Judenviertel geplündert und eine Feuersbrunst entfacht. Ursula ist ihnen gegenüber mehr als skeptisch, aber der Wunsch, von all ihren Sünden befreit zu werden, ist größer als die Angst.

Die Handlung spielt Ende des 11. Jahrhunderts. Die christliche Kirche ist bereits geteilt und der Papst hält sich in Cluny, Südfrankreich, auf. Es tobt ein Machtkampf zwischen weltlicher und geistlicher Macht und die Fronten sind so verhärtet, dass der Kaiser einen Gegenpapst und der Papst einen Gegenkaiser aufgestellt hat.

Das Buch ist vorwiegend aus der Perspektive Ursulas geschrieben, die sehr früh beide Eltern verloren hat und lange als Magd auf einem Bauernhof lebt. Ursulas Leben scheint typisch für diese Zeit, es gibt viele interessante Details aus dem Leben auf einem Bauernhof unter einfachsten Bedingungen. Neu war damals etwa der Gebrauch einer Sense:

Am nächsten Tag brachte der Bauer ein neues Werkzeug. Nur der Jungbauer und der Knecht durften damit arbeiten. Der Bauer hatte zwei Hühner und ein bereits kräftig gewachsenes Ferkel dafür eingetauscht. Es waren zwei große Sicheln, an langen Stilen, mit einem sehr langen, nicht ganz so stark wie bei der Sichel gebogenen Schneidblatt aus Eisen. Sie waren so scharf, dass man nicht mehr das Gras als Büschel halten musste. Mit einem kreisförmigen Schwung ließ man das Blatt durch das Gras fahren, und es schnitt dabei die Halme durch. Da das Gras nun aber nicht mehr in Büscheln dalag, war eine neue Arbeitsteilung nötig. Der Knecht und Ludger schnitten, Ingrid, Ute und Arnulf rafften das Schnittgut mit dem Rechen zusammen, und Ursula mit den Kleinen musste das Gras aufhäufen

Da sich sonst niemand aus der Bauersfamilie interessiert, hat Ursula als junges Mädchen das Glück, von der kräuterkundigen Großmutter in die Kunst des Heilens eingeführt zu werden:

Für Ursula waren die folgenden Wochen wie ein Rausch. Sie wurde nicht müde, Neues zu lernen, und all das, was sie erfuhr, bewahrte sie in ihrem Kopf auf wie in einem Schatzkästchen. Schon bald begann Ester zu überprüfen, was das Mädchen von den Eigenschaften der Pflanzen und ihren Erscheinungsbildern behalten hatte. Zu ihrer großen Freude zeigte sich, dass Ursula nicht nur immer weniger Fehler machte, sondern auch fast jeden Satz der Alten so gut wie wörtlich behalten hatte

Nach und nach wird der Jungbauer immer aufdringlicher. Die Großmutter sieht sich genötigt, Ursula das Rezept eines geheimen Kräutertranks anzuvertrauen, mit dem sie eine Schwangerschaft verhindern kann. Doch dann stirbt die Großmutter und Ursula hat die Hoffnung, von dem Jungbauern Ludger geheiratet und Bäuerin auf dem Hof zu werden.

Zu Beginn des Buches ist Ursula Kreuzfahrerin und hochschwanger. Als heilkundige Frau hat sie die Pilger, die ständig in kriegerische Auseinandersetzungen geraten, gemeinsam mit einer Freundin begleiten dürfen:

Um nicht als gemeine Huren zu gelten, schmückten beide sich nicht mit Beutegut, sondern trugen nur sehr wenig Schmuck. Auch ihre Kleidung hielten sie einfach und ohne bunte Bänder. Sicher, auch sie waren nicht abgeneigt gewesen, von Zeit zu Zeit mit einem einigermaßen ansehnlichen und manierlichen Kerl das Lager zu teilen, wenn dabei noch ein entsprechendes Geschenk damit verbunden war, aber sie hielten sich das Recht vor, nicht jeden zu nehmen. Noch in der Heimat hatten sie klar gestellt, dass ihre Beteiligung am Pilgerzug vor allem der Unterstützung all der Wundärzte, Knochensäger und Bader dienen sollte. Ihr Vorrat an Kräutern und das Wissen über den Nutzen waren ihre vorrangige Ware gewesen

Seitdem Ursula aber Roderich auf dem Pilgerzug kennen gelernt hat, gibt es für sie keine anderen Männerbekanntschaften mehr. Außerdem kann sie hochschwanger kaum noch die Hausarbeit erledigen. Nur das Kräutersammeln bewältigt sie noch einigermaßen problemlos und erinnert sich während dessen an die Frau, der sie ihr Heilwissen zu verdanken hat und ihr zum Teil schweres voheriges Leben.

“Die Kreuzfahrerin” zeigt den Alltag einer Magd schonungslos und anschaulich. Es ist ein Schicksal, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint und das wirkt sehr beklemmend. Doch das Buch ist gut recherchiert und sehr lesenswert!

Die Intrige

Der Roman “Die Intrige” von Ehrenfried Kluckert spielt im Jahr 1796. Die  französische Revolutionsarmee versucht gerade, Deutschland zu erobern und die Angst vor den französischen Truppen ist bei vielen sehr groß. Gleich am Anfang des Buches muss der Winzersohn Jakob mit Entsetzen ansehen, wie sein Vater in seinem Weinberg einen französischen Soldaten entdeckt und mit der Mistgabel erschlägt. „Der schändet nicht länger unsere Frauen, zerstört nicht mehr unsere Höfe und verwüstet die Weinberge. Der nicht!“, erklärt der Winzer seinem fassungslosen Sohn die Tat.

Gerade in diesen unsicheren Zeiten wird Johannes von Wellenberg der neue  Propst auf Bürgeln in Südbaden. Die Menschen dort sind besorgt:

Wie wird er mit uns umgehen? Werden wir mit ihm verhandeln können wegen des Zehntens? Wird er Säumige bestrafen? Wird er Rücksicht auf die Ärmsten nehmen?

Für einiges Gerede sorgt außerdem, dass er gemeinsam mit seiner Nichte Susanne erwartet wird. Johannes von Wellenberg ahnt, dass die Anwesenheit seiner Nichte ihm den Anfang in Bürgeln nicht leichter machen wird. Er mag ihr aber die Bitte, ihn begleiten zu dürfen, nicht abschlagen. Kurz zuvor ist ihre Mutter gestorben und sie kann nicht zurück in den Damenstift Borghorst, wo sie bisher ausgebildet worden ist. Johannes von Wellenberg selbst hat seine Nichte gebeten, zu entscheiden, wie ihr Leben von nun an weiter gehen soll und respektiert ihren Wunsch:

Sie hat entschieden, denkt er. Ich habe sie dazu aufgefordert. Sie ist wie ihre Mutter, meine unbeirrbare Schwester Annemarie. Ihr zu widersprechen war ein aussichtsloses Unterfangen

Der Revolutionsarmee stellen sich die habsburgischen Truppen entgegen, befehligt von Erzherzog Carl von Österreich. Doch nicht jeder hofft darauf, dass die Franzosen vertrieben werden. Es gibt viele widersprüchliche Informationen, womöglich spinnen manche sogar an einer Intrige.

Im Wirtshaus des Ortes versucht ein Major, die Wirtin Clara gegen ihren Verlobten und die Nichte des neuen Probstes aufzuhetzen. Der Verlobte ist Maler und damit beauftragt, Schloss Bürgeln mit einigen Wandgemälden zu verschönern. Für eines der Bilder sitzt ihm die Nichte des Propstes Modell. Der Major behauptet, der Maler habe ein Verhältnis mit seinem Modell, der Nichte. Doch Clara ist misstrauisch:

Sie schaut ihn skeptisch an. Sie kann einfach nicht einschätzen, was dieser Major mit seinem Besuch beabsichtigt. Das mit der Liebelei zwischen Jakob und dem Fräulein auf Bürgeln möchte sie nicht ernst nehmen. Nein, da wird nichts sein, denn das sympathische Fräulein Susanne hat es eindeutig auf den liebenswürdigen General abgesehen. Keine Frage. Das aber scheint der törichte Major nicht in Rechnung zu stellen

Einige Zeit später, die Kampfhandlungen sind immer näher gerückt, werden Clara und Susanne entführt. Alle vermuten die Franzosen hinter der Tat und bemühen sich, den Aufenthaltsort der beiden so schnell wie möglich heraus zu finden. Nach kurzer Zeit gelingt es ausgerechnet dem Major, der die Wirtin Clara von einer Liebesbeziehung zwischen der Nichte des Propstes und ihrem Verlobten überzeugen wollte, die beiden zu befreien.

Außerdem stellt sich heraus, dass der Secretarius des Propstes, der gerne selbst dieses Amt bekleidet hätte, Kontakte zu Graf Joseph von Druszka unterhält. Der Graf gilt in Wien als nicht hoffähig und hat einen sehr speziellen Ruf:

Druszka ist, um es kurz zu sagen und damit würde ich ihn nicht einmal beleidigen, Druszka ist ein Schlawiner. Er feiert in seinem Stadtpalais am Ring rauschende Feste mit zwielichtigen Gästen und nicht unbedingt vorzeigbaren Damen in kleinen Kabinetten mit Palmen geschmückt und den derzeit beliebten Panoramatapeten mit Südseemotiven

Sind auch die vielen aufdringlichen Bitten von Erzherzog Carl von Österreich an Clara und Susanne, sich nach Wien in Sicherheit zu bringen, wirklich aufrichtig besorgt gemeint?

Ehrenfried Kluckert lässt in Die Intrige das Südbaden des 18. Jahrhunderts mit vielen Details wieder auferstehen. Er verwendet eine Sprache mit vielen Begriffen, die in der damaligen Zeit und in dieser Gegend typisch waren, beschreibt ausführlich viele militärische Manöver und stellt auch die Architektur und Einrichtung von Schloss Bürgeln immer wieder ausführlich dar.

Le cri

Der Anfang von Nacera Belazas Le cri wirkt wie ein Durcheinander aus lautem Geschrei und Gerempel – kurz: es könnte die Geräuschkulisse in einer Schulpause sein. Im Dunkeln sind schemenhaft zwei Menschen auf der völlig im Schwarzen liegenden Bühne zu erahnen. Ganz sachte wird das Licht intensiver. Langsam werden die Konturen einer Person deutlicher. Im Hintergrund ist jetzt ein murmelnder Gesang zu hören.

Plötzlich wirkt es, als hätte die deutlicher erkennbare Person goldene Füße, der ganze Körper ist immer mehr in golden wirkendes gleißendes Licht gehüllt. Man erkennt, dass die Person eine Frau ist. Sie trägt eine weite Hose, ein langärmeliges T-Shirt und ein kurzes darüber, alles in lila Farbtönen. Ihre Haare hat sie zu einem kurzen Zopf zusammengebunden.

Genauso wie sie bewegt sich auch die andere Person sachte von einem Bein auf das andere. Langsam wirkt auch sie wie in Gold gehüllt. Man erkennt immer deutlicher, dass beide Frauen nicht nur fast vollkommen synchron dieselben Bewegungen ausführen, sie tragen auch die gleiche Kleidung und Frisur. Genauso wirken ihre Gesichter zum Verwechseln ähnlich.

Im Hintergrund wird eine knisternde alte Plattenaufnahme von Nina Simone ‚Black Is the Color of My True Love’s Hair‘ immer lauter. Die Musik wird begleitet und gestört von einem orientalischen Männergesang, der immer lauter wird. Die beiden Frauen bewegen sich immer ausladender und lebendiger, sie schwingen mit den Armen, immer noch synchron und voneinander fast nicht zu unterscheiden.

Mittlerweile ist so viel Licht auf der Bühne, dass der Zuschauer erkennen kann, dass alle Musik aus einem einzigen verschwindend klein wirkenden Lautsprecher in der linken Ecke der Bühne kommt. Der Gesang des orientalischen Mannes wird immer aggressiver und lauter. Schließlich übertönt er sogar den Gesang Nina Simones samt Orchester und man hört deutlich, dass er von einem Trommeln begleitet wird.

Die beiden Frauen bewegen sich zu dem immer schnelleren Rhythmus des orientalischen Gesangs und der Trommeln. Plötzlich werden ihre Bewegungen asynchron, ihre Armbewegungen ausladender und unruhiger. Es tritt wieder der Schulpausenlärm in den Vordergrund und plötzlich wird es dunkel. Als es wieder hell ist, stehen beide Frauen ganz vorne auf der Bühne unmittelbar vor der ersten Zuschauerreihe und bewegen wieder sachte die Arme und sind synchron, fast wie ganz am Anfang.

Der klassische Gesang Maria Callas aus Verdis ‚La Traviata‘ wird immer lauter. Es wird wieder dunkel und die beiden Frauen stehen auf einmal weit hinten auf der Bühne in hellem Licht. In die klassische Musik mischt sich immer deutlicher Popmusik und der Gesang Maria Callas wird immer mehr von Amy Winehouse ‚Some Unholy War‘ abgelöst. Die beiden Frauen verlassen auf einmal ihren sonstigen Bewegungsablauf und fangen einzeln und mit dem ganzen Körper zu tanzen an. Sie bewegen sich wieder unmittelbar vor die Zuschauer.

Als die Musik von Amy Winehouse immer dominanter wird, wiegen sie sich nur noch regelrecht apathisch von einem Bein auf das andere. Schließlich verschwinden sie ganz von der Bühne und auf einer Leinwand im Hintergrund  werden langsam weiße Flecke immer deutlicher. Schließlich sind fünf Gestalten zu erkennen, die dieselbe Kleidung wie die beiden Frauen auf der Bühne tragen und es scheint, als bildeten sie auch wieder die erste Reihe der Tänzerinnen auf der Leinwand.

Zu dem Song ‚I Wanna Jump‘ von Ike und Tina Turner bewegen sie die Arme immer ausladender bis es schließlich wirkt, als seien ihnen Flügel gewachsen. Die Bewegungen auf der Leinwand haben immer mehr etwas von einem zu schnell abgespielten Trickfilm und bleiben schließlich wie eingefroren stehen.

Die Produktion Le Cri der algerischstämmigen und in Frankreich lebenden Choreografin Nacera Belaza, die sie gemeinsam mit ihrer Schwester aufführt, ist 2008 mit dem französischen Kritikerpreis im Bereich Theater, Musik und Tanz ausgezeichnet worden.

Foto: ©Agathe Poupeney

Der Text ist erstmals auf dem Blog www.textblueten.wordpress.com veröffentlicht worden.