Essen

Essen ist mehr als nur tägliche Nahrungsaufnahme. Es ist ein tägliches Ritual, das in seinem Wert für den Betreffenden selbst und sein Umfeld kaum zu unterschätzen ist. Denn der „Mensch ist, was er isst“, wie es der Philosoph Ludwig Feuerbach Mitte des 19. Jahrhundert erstmals formulierte. Und das bedeutet: Alles, was wir essen, wird durch Stoffwechselprozesse zu einem Teil unseres Körpers. 

Buchcover "Über das Essen"Harald Lemke zeichnet in „Über das Essen“ unsere Haltung zur Nahrungsaufnahme und den damit verwandten Tätigkeiten wie Kochen, den Anbau von Lebensmitteln oder unser Konsumverhalten generell nach. War Sokrates noch ein echter Gastrosoph, der Menschen auf dem Markt nach ihrem Lebensmittelkonsum befragte und gute Speisen offenbar zu schätzen wusste, werteten seine Schüler Platon und Aristoteles das Kulinarische „zu einer unwichtigen Nebensache des menschlichen Lebens“ ab. Auf sie geht laut Lemke wesentlich die „Fastfood-Mentalität“ zurück, der erst Ludwig Feuerbach im 19. Jahrhundert auf philosophischer Ebene wieder etwas nennenswertes entgegen zu setzen wusste.

Dass sich in unserem Essverhalten eine generelle ethisch-moralische Haltung widerspiegelt, zeigt Lemke am Beispiel des Sternekochs Michael Hoffmann. In seiner „Gemüseküche“ sucht Hoffmann nach einer Verwendung für alles, was die gerade zubereiteten Pflanzen zu bieten haben und ist so bemüht, möglichst wenig Abfall zu produzieren. Indem er das für seine Speisen benötigte Gemüse überwiegend selbst anbaut, lebt er außerdem Nachhaltigkeit und Biodiversität. Das ist zwar aktuell ein Trend in der Kulinarik, aber eigentlich gar nicht neu, wie Hoffmann in dem folgenden Interview erklärt: 

Hier geht es zum Interview-Video bei YouTube

Heute ist die Bedeutung einer guten Ernährung für das Leben eines jeden Menschen sogar offiziell bestätigt. Beispielsweise bewertet die Weltgesundheitsorganisation  ungesunde Ernährung als einen Risikofaktor für die zunehmende Aggressivität von Kindern und Jugendlichen. Nicht verwunderlich, dass Lemke dann auch in seinem Buch mit Verweis auf den Zusammenhang zwischen gutem Essen und einem guten Leben fragt: „Ist Moral käuflich?“   

Buchcover "Der Hochzeitsreis"Um ein möglichst erträgliches Miteinander auf Basis liebevoll gedeckter Tische und sorgfältig  zubereiteter Speisen geht es auch in dem Roman „Der Hochzeitsreis“ des brasilianischen Autors Francisco Azevedo. Der Autor beschreibt hier die Geschichte einer Familie, die im 19. Jahrhundert aus Europa nach Amerika auswandert. Ohne eine Lebensperspektive in ihrer Heimat Portugal, macht sich ein Ehepaar samt Schwester auf den Weg nach Brasilien. Dort erhoffen sie sich zumindest eine wirtschaftlich abgesicherte Zukunft. Ein wichtiges Mitbringsel aus der Heimat ist der Reis, den die Hochzeitsgäste auf das Brautpaar haben nieder regnen lassen, um ihnen Glück und Fruchtbarkeit zu schenken.

Tatsächlich sind es die vertrauten Rezepte, die in dem zunächst fremden Land ein Gefühl von Wohlbefinden herstellen. Azevedo geht sogar soweit, von einer Art ‚Kochrezept für eine Familie‘ zu sprechen. Die Zubereitungsart für ein erträgliches  und im besten Falle sogar liebevolles Zusammenleben ist selbstverständlich hoch kompliziert: „Zunächst bedarf es dazu vieler Zutaten. Allein sie alle zusammenzubekommen ist schon schwierig genug – vor allem zu Weihnachten und Neujahr. Wo dies geschieht, ist dabei nicht so wesentlich. Damit es aber gelingt, braucht man auf jeden Fall Mut, Hingabe und viel Geduld“. 

Die Wirkung eines sorgfältig zubereiteten Mahls ist kaum zu unterschätzen. Den Familienvater machen die richtigen Speisen friedfertiger. Und sogar der sorgfältig aufbewahrte und dosierte Hochzeitsreis macht seinem Ruf als Fruchtbarkeitsversprechen alle Ehre. Nach einem traditionellen portugiesischen Rezept zubereitet, sorgt er für die Genesung des Familienvaters in spe. Letztlich sind alle überzeugt, dass sie den plötzlichen Kindersegen einem gesunden Mahl mit dem Hochzeitsreis zu verdanken haben. Doch am Ende seiner Darstellung des Lebens der portugiesischstämmigen Familie in Brasilien kommt der Autor zu dem Schluss, dass es für ein glückliche Familie trotz allem kein Patentrezept gibt: „Denn ist Familie einmal aufgegessen, ist sie auf dieselbe Art nie mehr nachzukochen“.   

Essen: Indonesische Theaterpuppen
Indonesische Theaterpuppen

Für ein Gefühl von Vertrautheit in der Fremde sorgt das Kochen auch in dem Roman „Pulang. Heimkehr nach Jakarta“ der indonesischen Schriftstellerin Leila S. Chudori. Dimas Suryo flieht in den 1960er Jahren vor dem Diktator Suharto nach Paris. Er kümmert sich um seine Freunde, die wie er aus Indonesien geflohen sind, indem er ihre Lieblingsrezepte kunstvoll nachkocht. So können sie sich in der Fremde mit der Erinnerung an Indonesien trösten: „Plötzlich huschte der Schatten von Surti an mir vorüber. Strahlend. Hell. Der Duft von Kurkuma in einer Küche. Ein Kuß, der alles um mich herum vergessen ließ“.

Es gelingt den Exil-Indonesiern, in Paris ein Restaurant zu eröffnen. Es wird zu einer Art Zufluchtsort: „Auf dem Speiseplan des Restaurants Tanah Air standen Gerichte, die sorgfältig mit Zutaten und Gewürzen aus Indonesien zubereitet wurden: roten Zwiebeln, Kurkuma, Nelken, Ingwer, Zitronengras und Galanganuß. Für uns war das Restaurant aber vielleicht auch eine Art Flora, ein Garten mit einer uns vertrauten Pflanzenwelt, in der wir gedeiehen konnten“. Dimas bekocht hier nicht nur seine französische Frau Vivienne und ihre gemeinsame Tochter, das Restaurant wird insgesamt zu einem wichtigen Treffpunkt für die indonesische Exil-Community. Nach und nach kommen auch immer mehr Reisende aus Indonesien zum Essen in das Restaurant und so gelingt es Dimas über das Kochen eine Beziehung zu seiner Heimat aufrecht zu erhalten. Denn eine Rückkehr nach Indonesien ist für ihn und die anderen für die Dauer der Militärdiktatur nicht möglich.

Als Dimas Tochter in den 1990er Jahren als Dokumentarfilmerin nach Indonesien reist,  gelingt es ihr nicht zuletzt durch ihr tiefgreifendes Wissen um die indonesische Kochkunst schnell, eine enge Beziehung zu der Familie  ihres Vaters aufzubauen. Zufällig gerät sie in die Unruhen hinein, die zum Sturz der Militärdiktatur führen. Dadurch bekommt sie die Gelegenheit, in ihrer zweiten Heimat ein zu Hause zu finden.

Wunder

August Pullman sieht anders aus, als andere Kinder. Durch einen Gendefekt ist sein Gesicht von Geburt an deformiert. Durch mehrere Operationen konnten die Ärzte immerhin erreichen, dass er sein Essen kauen und auch hinunter schlucken kann. Damit kann August, genannt Auggie, am ‘normalen’ Leben teilnehmen und wie jedes andere Kind zur Schule gehen – auch wenn sein Gesicht nach wie vor ein auffallendes Aussehen hat.

Rachel J. Palacio beschreibt in ihrem Buch Wunder den Moment, an dem Auggie sein bisher geschütztes Umfeld verlässt und eingeschult wird. Das ist nicht nur für August, sondern auch für seine Eltern ein Angst einflößender Moment. Denn obwohl seine Eltern bisher alles getan haben, um ihn zu schützen, weiß August sehr genau um sein besonderes Aussehen. Bereits seit Monaten trägt er ständig einen Austronautenhelm, der sein Gesicht vollständig verbirgt – sogar im Hochsommer. In der Grundschule muss er nun nicht nur auf den Schutz des Helmes verzichten, sondern sich auch noch den Reaktionen der vielen, bisher unbekannten, Kinder stellen.

Natürlich verläuft nicht alles reibungslos, obwohl sich Schulleiter und Lehrer alle Mühe geben, August zu unterstützen. Rachel J. Palacio beschreibt in ihrem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnetem Buch ausführlich und detailreich, wie und an welchen Stellen Ausgrenzung funktioniert. Dabei wechselt die Erzählperspektive im Buch zwischen August, seiner Schwester und deren Freunden. Klar wird dadurch, welche Motivation andere für ihr manchmal missverständliches oder verletzendes Verhalten haben. Außerdem wird der Moment deutlich gekennzeichnet, an dem ihnen die Ausgrenzungsversuche mancher Mitschüler als falsch erscheinen und sie beginnen, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Dass das Buch am Ende mit einem klassischen und auch reichlich kitschigen Happy-End aufwartet, stört dabei letztlich nicht.

Rachel J. Palacio beschreibt hier nichts Geringeres als den zeitweise recht steinigen Weg der Inklusion. Dabei liefert sie im Grunde genommen eine ganz grundsätzliche Analyse der Umstände, die Ausgrenzung, Diskriminierung und sogar Extremismus entstehen lassen können. Das gelingt ihr sogar in einer Sprache, die schon Jugendliche verstehen können. Auch für Erwachsene ist der Wechsel in die Perspektive der Kinder und Jugendlichen sicherlich hilfreich, zumal sich hier viele Strukturen erkennen lassen, die auch in der Welt der Erwachsenen zu Problemen führen. Dabei lässt sich andeutungsweise erkennen – Augusts Schule ist nach einem Mann benannt, der sich für Frauenrechte und gegen die Sklaverei eingesetzt hat – dass es in diesem Buch um die notwendige Toleranz allen Menschen gegenüber geht. Da scheint es auch nur folgerichtig, dass Wunder kürzlich auch als Film in die Kinos gekommen ist.

Julia Roberts, Jacob Tremblay, Mandy Patinkin und Owen Wilson spielen hier die Hauptrollen. Der Film Wunder ist eine wirklich gelungene Ergänzung zum Buch, ersetzt die Lektüre aber keinesfalls. Gerade im Film wirken Julia Roberts und Owen Wilson in der Rolle der Eltern zwar sehr bodenständig und fürsorglich, sind dabei manchmal aber ein bisschen zu perfekt geraten. Das Buch hält mehr Wendungen und Schattierungen der Geschichte bereit. Dennoch ist Wunder ein gelungener Film für die ganze Familie, mit dem sicherlich auch Kinder im Grundschulalter schon etwas anfangen können. Wie gesagt: Vergnügen garantiert durch Happy-End und einen Triumph des ‘Guten’ über das ‘Schlechte’. Kein Wunder also, dass der Film laut Wikipedia bereits zum Filmstart die Kinocharts anführt.

Trilogie meiner Familie

Gervaise hat Glück. In Trilogie meiner Familie hat sie endlich einen freundlichen und meistens sogar lustigen Mann gefunden, der sie trotz ihrer Kinder heiratet und sogar seinen Lohn nach Hause bringt, statt ihn zu vertrinken. Die Erleichterung ist in der ganzen Familie groß. Während dessen setzt sich Doktor Pascal über die Mahnungen seiner streng gläubigen Haushälterin hinweg und beginnt eine Liebesbeziehung mit seiner Ziehtochter. Bereits seit vielen Jahren ist er dabei, die Geschichte seiner Familie auf Grundlage der Vererbungslehre zu analysieren. Schon lange fürchten viele in der Familie, dass er ‚Schandflecken’ ans Licht zerren könnte und sorgen sich um ihre Existenz. Doch als Doktor Pascal feststellen muss, dass seine selbst zusammengestellte Medizin ihn nicht heilen können wird, flüchtet er sich unvermittelt in die Liebe zu seiner Ziehtochter. Ungefähr zur selben Zeit hat Gervaise sich gerade Geld von einem Bekannten geliehen, um eine eigene Wäscherei zu eröffnen. Sie ist noch einmal Mutter geworden und ihr Mann hatte gerade einen schweren Arbeitsunfall. Sein Einkommen fehlt und die Familie muss hungern. Der Bekannte hilft ihr nach der Eröffnung in der Wäscherei. Sie werden immer ausgelassener und schließlich gesteht er Gervaise seine Liebe und bittet sie, mit ihm fortzugehen. Erschrocken lehnt Gervaise aus Rücksicht auf ihre Familie ab.

Regisseur Luk Perceval entwickelt Liebe. Trilogie meiner Familie 1 auf Grundlage des zwanzigbändigen Romanzyklus über die Familie Rougon-Macquart, genauso wie die anderen beiden Teile Geld und Hunger. Autor der Romane ist der französische Schriftsteller und Journalist Emile Zola. Der Romanzyklus gilt als eines der wichtigsten Werke des Naturalismus. Zola beschreibt hier ausgewogen und ohne zu beschönigen die schwierigen Lebensumstände im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Er porträtiert arme Menschen wie die Bergarbeiter in Germinal genauso wie das Leben einer Edel-Prostituieten in Nana oder die Lebensustände einer Verkäuferin im luxuriösen Pariser Kaufhaus Paradies der Damen sowie die eines Gelehrten in Doktor Pascal. Luk Percval greift sich bei der Inszenierung der Trilogie einzelne Themen der bekannten Romane heraus, wirbelt sie durcheinander und stellt sie in einen neuen Zusammenhang zueinander. Passagen, die an den Roman Doktor Pascal erinnern, stehen auf einmal neben Szenen, die dem Roman Der Totschläger entnommen zu sein scheinen. In allen drei Teilen deckt sich die dargestellte Handlung auf der Bühne niemals vollständig mit der Romanvorlage, sondern nimmt ihre ganz eigene Wendung. Sowohl in Liebe, Geld als auch Hunger greifen dabei unterschiedliche Handlungsstränge ineinander, die sich gegenseitig unterbrechen oder erhellen und sich insgesamt in virtuoser Weise ergänzen.

Handlungsstränge greifen ineinander und erhellen sich 

Geld widmet sich vor allen Dingen den schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen wie der Schauspielerin Nana oder der Verkäuferin Denise. Die Familienbande sind zerrissen und damit verschwinden auch Wärme und Feundschaft aus dem Leben der Menschen. Insbesondere für Frauen gibt es keine geregelten Arbeitsverhältnisse und damit scheint auch die Liebe ihre romantische Seite zu verlieren. Sie entpuppt sich vorwiegend als Machtinstrument und bleibt oft sogar einzige Trumpfkarte in einem brutalen Überlebenskampf. In Hunger schreitet die Anonymisierung fort und die Menschen werden zu einem kleinen Zahnrad in der riesigen Maschinerie eines Bergwerks. Wie in Germinal und auch bei Charles Dickens oder Gerhart Hauptmann beschrieben, liefert die Industrialisierung den Arbeitern zunächst keinen Wohlstand. Eine Familie zu gründen können sich die meisten Arbeiter nicht mehr leisten, viele sind krank und es fehlt insgesamt am Nötigsten. Erst nach einem erfolgreichen Aufstand wird ein friedliches Zusammenleben möglich.

Während der gesamten Trilogie bleibt immer deutlich, dass die dargestellten Handlungen subjektiv gefärbt sind. Oft kommentieren und ergänzen Darsteller auf der Bühne ein Geschehen, an dem sie selbst nicht beteiligt sind. So sieht der Zuschauer nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den Augen des Kommentierenden. Außerdem werden die Stücke von Live-Musik begleitet, die für die Handlung auf der Bühne weitere Akzente setzt und damit die impressionistischen Note der Stücke unterstreicht. Dieser Charakter findet sich auch in Emile Zolas Romanen. Folgende Passage über das impressionistische Spiel von Licht und Schatten etwa, das nur einen Augenblick lang aus einer bestimmten Perspektive zu beobachten ist, findet sich in dem Roman Paradies der Damen:

Die Sonne war soeben hinter den Bäumen des Gartens verschwunden, der Tag ging zur Neige, leichte Schatten bereiteten sich allmählich über das weite Gemach. Es war die zarte Stunde der Abenddämmerung, jener Augenblick besinnlicher Entspannung zwischen dem Erlöschen des Tageslichts und dem Anzünden der Lampen. Die Gestalten der Herren de Boves und Vallagnosc, die immer noch am Fenster standen, warfen große Schatten auf den Teppich, während im letzten Tagesschimmer des anderen Fensters der vor einigen Minuten bescheiden eingetretene Herr Marty mit seinem blassen Professorengesicht und dem abgetragenen Oberrock sichtlich verlegen dem Modegespräch der Damen lauschte (Aus: Emile Zola: Das Paradies der Damen. Deutsch von H. Rosé und Margarete Montgelas)

Im Rahmen der Ruhrtriennale ist Liebe+Geld+Hunger. Trilogie meiner Familie an einem Tag zu sehen gewesen. Neun Stunden Theater am Stück sind zwar eine lange Zeit, aber es lohnt sich wirklich. Denn gerade so wird sichtbar, dass Figuren wie Nana über mehrere Teile hinweg eine Rolle spielen. Außerdem unterstreicht diese Art des Zuschauens den chronologischen Charakter des Werks.

Hier geht es zum Trailer bei YouTube

Korrosion

Eine alte Frau wird plötzlich tot in ihrer bescheidenen Wohnung aufgefunden. Für die Nachbarn ist schnell klar, dass der dunkelhäutige Geflüchtete aus dem Sudan der Täter sein muss. Er hat der alten Dame manchmal beim Einkaufen geholfen und ist in der Nachbarschaft dabei beobachtet worden. Auf die Polizei und Tom Winter, Sicherheitschef einer Schweizer Privatbank, wirkt der Vorfall deutlich komplizierter.

Der Geflüchtete als Verdächtiger

Niemand in der Umgebung der alten Dame hat offenbar gewusst, dass sie im Besitz eines Vermögens in Millionenhöhe war. Außerdem ist der Inhalt ihres Testaments mehr als ominös. Sie verlangt von ihren Nachlassverwaltern, dass sie heraus finden, welches ihrer drei Kinder seinen Vater ermordet hat. Der Tod des Ehemanns der alten Dame liegt bereits Jahrzehnte zurück und ist zu den Akten gelegt worden. Die Perspektive wechselt zwischen dem verdächtigen Sudanesen und der Handlung in der Gegenwart hin und her. Im Text werden so die beiden Lebenswirklichkeiten einander drastisch gegenübergestellt.

War es Mord an dem eigenen Vater?

Tom Winter wird beauftragt, alle Familienmitglieder ausfindig zu machen. Gerade von einem Lawinenunfall genesen, gerät er in einen regelrechten Strudel der Ereignisse. Er trifft auf die besorgte Familie der ältesten Tochter der Toten. Die Tochter ist seit Kurzem nicht mehr auffindbar und ihr Mann rechnet mit dem Schlimmsten. Dann ist da noch die Clique drogendealender Flüchtlinge, denen Tom Winter nur Dank seiner Kampfkunst wieder entkommt und die ihn erstaunlicherweise sogar zu Hause bedrohen.

Tragödie und Prügeleien

Außerdem macht er die Chefin eines Pharma-Unternehmens ausfindig. Sie ist die andere Tochter der Toten und hat ihre Firma mit dem Geld der Mutter aufgebaut. Außerdem ist sie schwerkrank und scheint in finanziellen Schwierigkeiten zu stecken. Dann trifft Tom Winter in Großbritannien außerdem auf den mehrfach vorbestraften Sohn der alten Dame. Alle Verwandten der Toten berichten einmütig davon, dass es Probleme in der Familie gegeben habe. Tom Winter ist sich kurzzeitig sicher, dass er den Täter unter den Familienmitgliedern ausfindig machen würde. Doch dann ergibt sich eine völlig überraschende Veränderung, die alles in ein anderes Licht rückt.

Wortkarger Typ mit weichem Kern

Korrosion ist ein sehr spannender Thriller mit vielen Überraschungen und atemberaubenden Kampfszenen. Tom Winter hat ganz bestimmt James-Bond-Qualitäten, verfügt dabei aber sympathischerweise auch über ein Herz. Spannend macht das Buch neben der interessanten Persönlichkeit von Tom Winter die lebensnahe Handlung. Keine der vielen überraschenden Wendungen wirkt gekünstelt oder verkrampft. Auch die Sprache ist anspruchsvoll und verständlich zugleich. Korrosion ist ein sehr gelungener Thriller, der Action und anspruchsvolle Unterhaltung gleichermaßen bietet.

Don’t Kiss Ray

In Don’t Kiss Ray von Bestseller-Autorin Susanne Mischke fährt die fünfzehnjährige Jill zum ersten Mal zusammen mit ihren Freunden zu einem mehrtägigen Open-Air-Festival. Jill interessiert sich eigentlich nicht besonders für Musik und erfährt meist erst kurz vor dem Auftritt von ihren Freunden, wer gleich wo spielen wird. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet Jill eine ganz besondere Bekanntschaft macht: Sie trifft Ray, den Sänger einer der aktuell bekanntesten Teenie-Bands, vor einem Waffelstand. Natürlich ahnt sie nicht einmal, wer er ist, als sie ihn anmotzt, dass er sich nicht vordrängeln soll und schließlich mit ihm ins Gespräch kommt.

Liebe auf den zweiten Blick

Zu Jills großer Enttäuschung macht ein heftiges Unwetter das für später geplante Date zu Nichte. Doch nachdem das Festivalgelände verwüstet und in eine Schlammlandschaft verwandelt worden ist, freuen sich Jill und ihre Freunde, dass die wichtigste Band des Festivals doch noch auftreten kann. Allerdings könnte Jills Überraschung kaum größer sein, als ausgerechnet der Sänger, der alle Mädchen zum Kreischen bringt,  öffentlich einem “Mädchen mit der Puderzuckernase” ein Treffen vorschlägt. Damit kann nur Jill gemeint sein und der Sänger auf der Bühne entpuppt sich als der Typ vom Waffelstand.

Plötzlich wissen alle, wer sie ist

Als Jill Ray nach dem Konzert treffen will, gibt es bei den vielen sexy gekleideten Mädchen kein Durchkommen. Schließlich fahren Jill und ihre Freunde, die mittlerweile genauso erpicht auf ein Kennenlernen mit Ray sind, enttäuscht wieder nach Hause. Doch als plötzlich ein Handy-Foto von Ray und Jill im Internetforum der Band auftaucht, ist nichts mehr so, wie vorher. Jill wird erkannt und erhält Hasskommentare in sozialen Netzwerken, wird in der Schule geschnitten und es lauern ihr gewaltbereite Mädchen auf dem Schulweg und vor der Haustür auf. Auch Jills Familie und Freunde werden in den Konflikt hineingezogen.

Er darf offiziell keine Freundin haben

Doch auch Ray bringen die Fotos aus dem Band-Forum in Schwierigkeiten. Laut Vertrag darf Ray gar keine Freundin haben. Rays Manager ist der Meinung, dass sich das negativ auf die Verkaufszahlen auswirken könnte. Angesichts der vielen verärgerten Postings im Forum fühlt er sich bestätigt und verlangt von Ray, dass er den Kontakt zu Jill abbricht. Doch nach vielen Enttäuschungen, Missverständnissen und Heimlichtuereien gibt es für Ray und Jill ein Happy End.

So etwas könnte Jedem passieren

Jills Geschichte mag auf den ersten Blick ungewöhnlich klingen, ist  es aber nicht. Laut der EU-Initiative für mehr Sicherheit im Netz klicksafe.de kennt jeder dritte Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren jemanden, der schon einmal gemobbt worden ist. Tatsächlich sind viele Erfahrungen, die die Protagonistin Jill macht, ganz typisch und treten bei vielen (Cyber-)Mobbing-Opfern auf. Da Täter die Reaktionen ihrer Opfer auf Schikane oder Verleumdungen nicht sehen können und ihnen das Ausmaß des angerichteten Schadens nicht klar wird, agieren sie laut klicksafe.de im Netz oft besonders brutal. Auch die Protagonistin Jill kennt die meisten ihrer Peiniger nicht persönlich. Gespräche sind mit den Verfolgern meist nicht möglich und ihre Familie weiß sich nicht anders zu helfen, als die ungebetenen Gäste mit dem Gartenschlauch zu vertreiben.

Der Roman hat auch Schwächen

Obwohl die Geschichte von Jill sehr anschaulich und realitätsnah dargesellt wird, gibt es in der Erzählung einige logische Brüche. Unverständlich bleibt, wie der angeblich pausenlos von aufdringlichen Fans umlagerte Ray unbemerkt zu einem Waffelstand gelangen und dort auch noch ein Gespräch beginnen konnte, ohne von Fans gestört zu werden. Auch die Beschreibungen Rays und seiner Motive –  im Roman wird immer wieder zwischen den Perspektiven von Jill und Ray gewechselt – wirken oft reichlich oberlehrerhaft. Susanne Mischke versucht hier vermutlich etwas, das ihr in Bezug auf den Charakter Jill sehr gut gelingt, auch bei der Figur Ray: Sie möchte erklären, wie erfolgreiche Musiker so sind. In Rays Fall ist das ein nachdenklicher, einsamer Teenager mit tollem Aussehen und vielen außergewöhnlichen Fähigkeiten – alles in allem ein sehr vorzeigbares Beispiel “natürlicher Auslese”. Das alles wirkt oft zu aufgesetzt und blutleer.

Weitere Informationen zum Thema (Cyber-)Mobbing: 

klicksafe.de: (Cyber)Mobbing: Was ist das?

Sueddeutsche.de: So kämpfen Schulen gegen Mobbing

Spiegel.de: Jeder achte Jugendliche ist betroffen

Beratungsstelle der Polizei

Über das Leben in Städten

Ein Schwerpunkt der letzten Ausgabe des internationalen literaturfestival berlin war die Reihe ‚Visions 2030’, die sich mit dem Leben in Städten auf allen fünf Kontinenten, heute und in Zukunft, beschäftigt hat. Omar Akbar war Diskussionsleiter der Reihe und beschreibt, warum dieses Thema so wichtig ist:

Omar Akbar: „In der Stadt sammeln sich Ethnien, Kulturen, Innovationen, Forschung und Wissenschaft, dies strömt eine besondere Attraktivität aus. Somit ist die Migration ein altes Thema in den Städten, sie verspricht den Migranten Hoffnung die Möglichkeiten zu nutzen, auch die Ärmsten der Armen erhalten eine Chance und könnten es schaffen.

Die Urbanisierungsprozesse und auch das Wachstum der Städte wird seit Jahrzehnten beobachtet. Es ist eine unaufhaltsame Entwicklung mit der Folge, dass die dörflichen Strukturen weltweit aufgegeben oder industriell transformiert werden. Ägypten ist ein interessantes Beispiel dafür.

Generell ist der Wandel ein Wesenszug der Stadt. Sie kann wachsen, stagnieren oder schrumpfen. Ehemals strategisch wichtige Orte wie etwa die Handelswege können ihre Funktionen ändern – Die Geschichte ist voll von solchen Veränderungen. Auch aktuell können wir so etwas in Deutschland beobachten: die Städte in Ostdeutschland und im Ruhrgebiet schrumpfen. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Bevölkerungszahl sich reduziert und damit ganz natürliche Veränderungen nach sich zieht. Folglich haben wir mehr bebaute Flächen und weniger Menschen.

Zugleich ist festzustellen, dass wir die Völkerwanderung falsch eingeschätzt haben. Sie existiert weltweit und zur Zeit sind es etwa 6 Millionen, die ihre Orte verlassen. Allein im Libanon mit einer Einwohnerzahl von etwa 4 Millionen leben zur Zeit 1 Million syrische Flüchtlinge. Die Völkerwanderung wird weiterhin erheblich wachsen – auch nach Europa.“

Manchmal hat man den Eindruck, das wichtigste Thema in Bezug auf die Stadtentwicklung in Deutschlandist das Sterben der kleinen Geschäfte in den Innenstädten und die Leere, die dort dann offenbar zurück bleibt. Oft wird ja der Online-Handel dafür verantwortlich gemacht. Woanders ist das aber kein Thema?

Omar Akbar: “Es ist richtig, Einkaufszentren nehmen massiv zu und die Bedeutung des Einzelhandels wird rudimentärer. Trotzdem haben die großen Marken sich ihre individuellen Standorte geschaffen. Zugleich glaube ich nicht daran, dass der Online-Handel das städtische Leben verändern wird. Er ist eine Ergänzung. Der Markt ist viel zu flexibel und beachtet genauestens die Bedürfnisse. Auch die individuelle Kommunikation spielt eine bedeutende Rolle. Häufig bevorzugen Kunden eine professionelle Beratung, möchten die Qualität der Waren fühlen, oder auch die typischen Gerüche wahrnehmen. Im Kontext der Globalisierung sind neue Angebote hinzugekommen. Auf dem Markt in Florenz beschrieb ein Betreiber die Veränderung der Gerüche. Es riecht nicht mehr florentinisch nach Käse, Gemüse etc., sondern auch nach Sushi und Döner.”

Wie sehen Sie das Bewusstsein der Menschen hinsichtlich der Mentalitäten oder des Verhaltens in der Öffentlichkeit?

Omar Akbar: „In der Öffentlichkeit verhält man sich in Deutschland zurückhaltend, wenn es um Körperkontakte geht, insbesondere unter Männern. Im mediterranen Raum ist dieses viel unverkrampfter, die Emotionalität wird anders ausgedrückt.

Ebenso sehe ich in Bezug auf die Esskultur gravierende Unterschiede: überall findet man regionale Unterschiede und Geschmacksrichtungen. Darüber hinaus möchte ich weitere Besonderheiten aufzählen: Lebt man beispielsweise in Algier ist es ist im Prinzip unmöglich, sich von der eigenen Familie zu emanzipieren, wobei es Frauen dabei besonders schwer haben. Abends in den Cafés und Restaurants sitzen im wesentlichen die Männer, ein allgemein bekanntes Phänomen im Orient. Andererseits können Frauen in Bogotá de facto keine Busse benutzen, da die Vergewaltigungsraten extrem hoch sind. Die Realitäten verändern sich natürlich stetig. Als ich Ende der 80er Jahren in Ägypten lebte, war es dort sogar nach Angaben der Deutschen Botschaft sicherer, als Berlin. Man konnte in Kairo seine Einkaufstüten auf dem Auto stehen lassen, ohne dass etwas abhanden kam.”

Woran liegt es denn, dass die politische Lage sich in dieser Gegend so zugespitzt hat?

Omar Akbar: „Viele Probleme sind unter anderem ein Ergebnis der nachkolonialen Phase und dem Zerfall der Sowjetunion. Zugleich befreite sich der Islam von Bevormundung durch staatliche Organisationen. Nach dem Fall vom Schah im Iran begann die gänzliche Islamisierung der Gesellschaft, ein Vorbild für andere islamische Länder in der Region. Dass dieser Schritt über die Region hinaus gehen würde, wusste man zu dieser Zeit nicht. Die aktuelle Islamisierung hat bedingt mit dem Einmarsch des Westens im Nahen-Osten etwas zu tun. Es ist im Wesen bestimmter Islambewegungen verhaftet.“

Zum Abschluß: Wie sehen sie die Situation in Deutschland?

Omar Akbar: „Ich persönlich stelle fest, dass wir in Deutschland alle Freiheiten haben, um uns entfalten zu können. Jene, die hier alles problematisch finden, sollten in ihren Herkunftsländern beispielsweise einmal zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen. Da erfährt man, welche Rolle Macht und Geld spielen können.

Die Errungenschaften dieses Landes muss man schätzen lernen und verinnerlichen. Nur mit dem Konsum westlicher Güter kann die eigene Entwicklung nicht voranschreiten.“

AutorInnen:

Kevin Barry, Irland: ‘Die dunkle Stadt Bohane’, Roman ir.gif / Mircea Cărtărescu, Rumänien: ‘Die Wissenden’ir.gif, Roman / Maria Sonia Cristoff, Argentinien: ‘Unter Einfluss’, Roman / Roddy Doyle, Irland: ‘Henry, der Held’, Roman / Sónia Gomes, Angola / Helon Habila, Nigeria / USA: ‘Öl auf Wasser’, Roman / Rawi Hage, Libanon / Kanada: ‘Kakerlake’, Roman / Perihan Maǧden, Türkei:  ‘Zwei Mädchen: Istanbul-Story’, Roman /  Suketu Mehta, Indien / USA: ‘Bombay: Maximum City’, Roman / Laura Restrepo, Kolumbien/E: ‘Land der Geister’, Roman /  Boualem Sansal, Algerien:  ‘2084: Das Ende der Welt’, Roman

WissenschaftlerInnen:

Zeynep Aygen (Türkei), Sonja Beeck (D), Angelika Fitz (A), Adam Greenfield (USA), Martina Löw (D), Hildegard Matthias (D), Philipp Misselwitz (D), Stephan Rammler (D), Helmut Rechenberger (A), Stefan Schaurig (D), Jasmin Wiebke (D)

Indonesische Lyrik

Viele Besucher sind ins Literaturhaus Berlin gekommen, um indonesische Lyrik kennen zu lernen. Meist wird der Text erst in der offiziellen indonesischen Landessprache Bahasa Indonesia gelesen, dann auf Deutsch. Die Eindrücke könnten unterschiedlicher kaum sein: Auf der einen Seite die sehr melodisch klingenden Worte, denen der vortragende Agus R. Sarjono mit viel Emphase Leben einhaucht und auf der anderen die deutsche Version. Die ganze Art des Vortrags ist anders, sie ist deutlich nüchterner und zurückhaltender, wodurch sie zumindest eher den hiesigen Gewohnheiten bei Lesungen entspricht. Doch es funktioniert trotzdem, vor allen Dingen auf der inhaltlichen Ebene.

Emphase und Performance

Wie viele indonesische Gedichte, trägt auch ‚Die Predigt‘ stark narrative und absurde Züge. Die Schilderung eines Priesters, der verzweifelt versucht, der Menschenmasse in seiner Kirche zu erklären, dass er ihnen leider weder mit Rat noch Führung behilflich sein kann, bringt auch die deutschsprachigen Zuhörer zum Lachen. Das Gedicht gehört zu den bekanntesten, Verfasser ist der Lyriker, Dramatiker, Schauspieler und Regisseur Rendra. 2009 verstorben, wirkt die Arbeit des Modernisierers der indonesischen Kultur bis heute nach. „In Indonesien sind Lesungen sehr gut besucht“, erklärt der Übersetzer und Indonesien-Experte Berthold Damshäuser, „Rendra hat Lesungen vor gut 10.000 Menschen in Sportstadien gehalten. Die Indonesier sind gute Performer und nur sehr wenige rezitieren ihren Text nicht selbst. Außerdem gibt es dort kaum eine Veranstaltung, bei der nicht gelacht wird“. In Indonesien lassen sich nur sehr wenige gedruckte Bücher, dafür aber umso mehr Eintrittskarten für solche Lese-Performances verkaufen, die oft von Musik begleitet werden.

17.000 Inseln, oft mit eigenen Traditionen

Das Äquatorarchipel Indonesien, das rund 17.000 Inseln mit vielen eigenen Sprachen und Traditionen umfasst, war jahrhundertelang eine niederländische Kolonie. Bis heute haben dort europäische Einflüsse neben arabischen, indischen und chinesischen Spuren hinterlassen, die sich auch in den Texten der von Berthold Damshäuser und Agus R. Sarjono herausgegebenen Lyrik-Anthologie Sprachfeuer entdecken lassen. Ein Gedicht von Sitor Situmorang etwa, das den Titel ‚Weimar‘ trägt, dreht sich um das bis heute spürbare Nachwirken der beiden in Indonesien bekannten Dichter Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Ebenso beinhaltet die Sammlung ein Poem Afrizal Malnas, in dem das Wort ‚Dada’ die dominierende Rolle spielt. Gemeint ist damit allerdings nicht nur die europäische Avantgarde-Bewegung von Anfang des 20. Jahrhunderts, das Wort hat darüber hinaus gehend diverse Bedeutungen in der indonesischen Sprache. Indirekt lassen sich unter anderen Einflüsse Friedrich Hölderlins, Rainer Maria Rilkes, Paul Celans, Arthur Rimbauds, Guillaume Apollinaires und natürlich William Shakespeares erkennen.

Sprache ohne Metrik

Trotz aller erkennbaren Parallelen, gibt es eindeutige Brüche mit der europäischen Tradition. Reim und Versmaß im ‘klassischen’ Sinne lassen sich nicht finden, was laut Berthold Damshäuser nicht zuletzt auf Eigenheiten der Bahasa Indonesia zurückzuführen ist: „Die indonesische Sprache kennt keine Metrik und damit lassen sich auch keine festgefügten Metren finden“. Insofern erinnern die Gedichte mit ihrem oft sehr prosaischen Charakter am ehesten an moderne europäische Lyrik, wobei sich indonesische Gedichte neben der ungemein assoziationsreichen Sprache vor allen Dingen durch eine ihnen eigenen Rhythmik und Musikalität auszeichnen.

Landschaft und politische Themen

Die Themen der 223 Gedichte von 28 Lyrikerinnen der Anthologie Sprachfeuer reichen von Liebe und Einsamkeit über Gewalt und Politik bis hin zu Impressionen von Landschaft und Religion, wobei der Islam eine zentrale Rolle spielt. Mehr als 80% der Indonesier sind Muslime. Dabei stehen Gedichte mit eindeutig religiöser Thematik wie ‘Herr, wir sind uns so nah’ von Abdul Hadi WM neben Werken feministischer Prägung wie denen der Philosophie-Professorin Toeti Heraty. Auch die teilweise umstrittene Lyrikerin Dorothea Rosa Herliany, die Gewalt an, aber ebenso von, Frauen in ihren Werken anspricht, hat einen festen Platz in der indonesischen Lyrik-Szene. Manche Gedichte scheinen die Verhältnisse vor und um den Sturz des Suharto-Regimes 1998 zu beleuchten. Ein Ereignis, das in der kreativen Szene Indonesiens Veränderungen nach sich gezogen hat. „Seit dem Sturz ist die indonesische Literatur generell so frei, dass sie die Verhältnisse getreu abbildet“, beschreibt Berthold Damshäuser die Auswirkungen. Einige Poeme befassen sich außerdem mit der tropischen Landschaft und Vegetation des Äquatorarchipels in ihrer gesamten Abivalenz. Nicht selten geschieht das auf eine für europäische Leser zum Teil ungewöhnliche, aber gleichzeitig erstaunlich vertraute Weise.

Berthold Damshäuser empfiehlt für die Lektüre:  „Man sollte eigentlich nur auf den Text achten und vergessen, dass es ein indonesischer ist“. Das gelingt in den meisten Fällen sehr gut.

Leseempfehlungen:

Sprachfeuer. Eine Anthologie moderner indonesischer Lyrik. Hg. Agus R. Sarjono und Berthold Damshäuser. 374 Seiten, regiospectra verlag berlin. ISBN 978-3940132741

Gebt mir Indonesien zurück! Eine musikalische begleitete Lesung moderner indonesischer Lyrik (in deutscher Sprache). Rezitation: Berthold Damshäuser, Musique automatique: Peter Habermehl. Gesamtspielzeit: 73:38:08. Audio-CD. Katalognummer: 01970101

1965ff. Die Gegenwart eines Massenmordes. Ein politisches LesebuchHg. Anett Keller für die Südostasien-Informationsstelle. 220 Seiten, regiospectra verlag berlin. ISBN 978-3940132680

Martin Jankowski: Indonesien lesen. Notizen zu Literatur und Gesellschaft. 195 Seiten, regiospectra verlag berlin. ISBN 978-3-9401-3266-6

Andrea Bajani: Erkennst du mich

Wie lässt sich die Leere füllen, die ein Mensch nach seinem Tod hinterlässt? Andrea Bajani zeichnet lebendig die prägendsten Szenen von Leben, Sterben und Tod des krebskranken Antonio Tabucchi nach und lässt ein abwechslungsreiches und teilweise sogar sehr farbenfrohes Porträt des Schriftstellers entstehen. Dabei verwendet er immer wieder die direkte Rede, fast so, als hätte er einen Brief an seinen verstorbenen Freund verfasst.

Unsicherheit, wie mit der Situation umzugehen ist, dominiert die Trauergäste um den aufgebahrten Tabucchi. Auch nach seinem Tod “bewohnt” der bekannte Schriftsteller auf manchmal schwer zu fassende Weise die Leerstelle, die er hinterlässt. Da ist etwa das Flackern der Totenkerzen, das Tabucchi noch selbst zu steuern scheint sowie die Fotos oder Tonaufnahmen mit alten Interviews, die den Toten fast ganz unmittelbar zurück in die Mitte der Trauergemeinde holen. Dann ist da auch die Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit Tabucchi, das Kennenlernen, seine Maskeraden und Zirkusnummern als Schriftsteller sowie im ‚echten’ Leben. Darüber hinaus schleichen sich Lesungen, Besuche in Tabucchis Haus und Wohnungen mit und ohne ihn oder an die vielen Telefonate, die teilweise sehr unvermittelt in die unpassendsten Momente hinein platzen konnten, zurück in das Gedächtnis. Deutlich ist auch immer noch der Eindruck, dass Tabucchi, mehr und mehr gezeichnet durch sein Krebsleiden, zunehmend launisch wurde.

Es bleiben aber auch die Momente lebendig, in denen Tabucchi als Schriftsteller dem jungen Kollegen Schreib- und damit auch Lebenshilfe geleistet hat. Später war diese Hilfe mit dem Gefühl verbunden, dass der Ältere an den Jüngeren ‚die Wörter‘ und ‚das ganze Vokabular‘ zu übergibt und Bajani sein berufliches Erbe antreten lässt. Es ist ein schweres Erbe, alles atmet immer noch Tabbucchis Präsenz und in manchen Momenten wirkt es, als ob er Bajani sogar nach seinem Tod wieder in die Schranken verweisen will. Dann sieht er Bajani gefühlt missmutig und sehr real aus einer Fotografie direkt in die Augen und scheint ihn verärgert anzupoltern, dass er sich in einem Haus befinde, das nicht ihm gehöre und er sich nicht zu weit in das fremde Terrain vorzuwagen habe.

Erkennst du mich von Andrea Bajani ist ein vielschichtiges Porträt, das deutlich macht, warum unter kein Leben ein Schlussstrich gesetzt werden kann.

Psychopathen

Um kategorisieren zu können, wer als ‘Psychopath’ und damit als schwer gestört eingestuft werden muss, ist die Psychopathy Checklist entwickelt worden. Doch obwohl die allermeisten Psychopathen in den Hochsicherheitstrakten der Gefängnisse einsitzen, lassen sich die ‘Normalen’ laut Kevin Dutton, Forschungspsychologe am Calleva Research Center for Evolution and Human Sciencedes Magdalen College der Oxford Universityin vielen Fällen gar nicht so leicht von ihnen abgrenzen. Beispielsweise gibt es zwischen dem Gehirn eines Psychopathen und dem eines als ‘normal’ geltenden Menschen im Allgemeinen rein äußerlich keinen erkennbaren Unterschied. Außerdem sind es manchmal gerade Eigenschaften, die Psychopathen zugerechnet werden, wie Furchtlosigkeit, Selbstsicherheit, Charisma oder Skrupellosigkeit, die bestimmte Menschen beruflich besonders erfolgreich machen:

Ein Mensch kann zum Beispiel unter Druck eiskalt sein und etwa so viel Empathie zeigen wie eine Lawine (einigen von dieser Sorte werden wir später auf dem Börsenparkett wieder begegnen). Das bedeutet nicht automatisch, dass er auch gewalttätig, antisozial oder gewissenlos handelt. Ein solches Individuum weist zwar zwei psychopathische Merkmale auf und steht damit auf der >psychopathischen< Skala höher als jemand, dem diese Merkmale fehlen. Damit ist er aber noch weit entfernt von der Gefahrenzone derjenigen, die sämtliche psychopathischen Merkmale aufweisen

Mit Hilfe vieler spannender Experimente, Forschungsergebnisse und unterhaltsamer Anekdoten macht Kevin Dutton sich auf gut lesbare Weise auf die Suche nach der manchmal offensichtlich nur sehr schwer zu ziehenden Grenze. Dabei zeigt er viele Menschen, die zumindest in Teilen über herausragende Fähigkeiten verfügen. Wer hätte vermutet, dass Menschen mit gewissen psychopathischen Eigenschaften die besseren Zollbeamte sein oder sich unter Umständen für die Lösung sozialer Probleme als besonders gut geeignet erweisen können? Oder dass buddhistische Meditation bewirken kann, dass ein Mensch in bestimmten Momenten genauso gefühllos und unbeteiligt reagiert wie ein Psychopath?

Der Erfinder der Psychopathy Checklist, Robert Hare, lobt PSYCHOPATHEN. Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann von Kevin Dutton als “höchst anregendes Buch für alle, die die >psychopathische< Welt, in der wir leben, besser verstehen wollen”. Der Präsident der Society for the Scientific Study of Psychopathy, Scott Lilienfeld, sagt über das Buch: “Der unwiderstehliche Kevin Dutton ist wieder da. Diesmal mit einem pietätlosen Aufriss der hellen und dunklen Seiten der geheimnisvollen Psychopathen. Er liefert eine mitreißende Mischung von Wissenschaftlichem und Persönlichem und informiert und unterhält die Leser gleichermaßen”.

Die Villa am Rande der Zeit

Aus Filmen und Büchern wie Zurück in die Zukunft, Per Anhalter durch die Galaxis, Die Zeitmaschine oder Und täglich grüsst das Murmeltier weiß man, dass Zeitreisen wohl irgendwie möglich zu sein scheinen. Manchmal gelingt es offenbar mit Hilfe von Zeitmaschinen, in anderen Fällen passiert es wie aus heiterem Himmel. Natürlich kann das jeder persönlich für die mehr oder weniger glaubwürdige Fantasie mancher Autoren und Regisseure halten oder auch daran glauben, dass es wirklich möglich ist. Die Protagonisten aus dem Roman Die Villa am Rande der Zeit des serbischen Schriftstellers Goran Petrovic zumindest zweifeln nicht daran.

Fast alle im Roman von Goran Petrovic beschriebenen Personen sind begeisterte Leser. Mit Hilfe ihrer Bücher reisen sie in ihre Erinnerung oder machen Erfahrungen, die so real sind, dass sie mehr als nur reine Fantasie zu sein scheinen:

Ihre Verwirrung war so groß, dass sie sich später nicht mehr erinnern konnte, wie sie so weit hatte kommen können. Sicher, sie hatte sich auch früher eifrig bemüht, der alten Dame vom vorgegebenen aus zu folgen, Seite um Seite, Zeile für Zeile, Wort auf Wort. Dann war ihr auf einmal bewusst geworden, dass sie anstelle der aneinandergereihten Wörter eine Frau in einem schwingenden Kleid aus Rohseide vor sich sah, mit lässig über die Schulter geworfenem Schal, einem breitkrempigem Strohhut und einem Picknickkorb in der rechten Hand; eine Frau, die langsam, aber entschlossen einen Weg entlang schritt … Wie das möglich war, konnte sich Jelena nicht erklären. Und wie war sie auf diese karge, nur mit Gras bewachsene Anhöhe gelangt?

Jelena ist die Gesellschafterin der hochbetagten wohlhabenden Dame Natalja Dimitrijevic, die ihre Wohnung kaum noch verlässt, da sie sich ‘an allem satt gesehen’ hat. Sie verbringt die meiste Zeit bei der gemeinsamen Lektüre mit ihrer Gesellschafterin Jelena, auf die sie sich manchmal vorbereitet, wie auf einen Ausflug. Sie überrascht Jelena  beispielsweise in einem Reisekleid und mit gut gefülltem Picknickkorb, um ihrer Gesellschafterin dann nur fordernd ein aufgeschlagenes Buch hinzuhalten. Ein Verhalten, das Jelena anfangs staunen lässt, obwohl die große Bibliothek der alten Dame sie vom ersten Moment an sehr an einen Botanischen Garten denken lässt:

Jelena drängte sich der Eindruck auf, sich in einem Garten zu befinden. Wer weiß, vielleicht lag das an dem Spalier der vollgestellten Bücherregale, die jeden Quadratmeter der Wände bedeckten und sich vom blanken Boden – genauer gesagt von einem ausgetrockneten Parkett, das aus verspielten Intarsien in sämtlichen Rottönen meisterhaft zusammengesetzt war – bis zu der hohen Decke mit ihren schattigen Winkeln zogen. Oder an der bunten Blütenfülle aus Büchern, die, was man bei flüchtigem Hinsehen nicht bemerkte, in je zwei oder mehr Exemplaren vorhanden waren, so wie sich auch in der Natur hier der Wegerich vermehrt und dort die Triebe der Kornelkirsche hartnäckig emporschießen

Ohne es zu wissen ist Jelena in der Nationalbibliothek bereits Adam über den Weg gelaufen, einem Slawistik-Studenten und Lektor der Zeitschrift Die Schönheiten unseres Lebens. Er hat gerade den vielversprechenden Auftrag erhalten, ein Buch aus dem Jahr 1936 zu überarbeiten, das ihn auf unerwartete Weise mit Jelena verbindet. Ein Auftrag, bei dem sich erstaunliche Schwierigkeiten auftun. Kurz nach seinem Erscheinen ist es von einem anonymen Kritiker in einer Literaturzeitschrift verrissen worden und auch heute noch erweist sich die Beschäftigung mit dem Buch, das den Titel MEIN VERMÄCHTNIS trägt, als erstaunlich kompliziert.

Die Villa am Rande der Zeit erzählt einfühlsam und poetisch von interessanten Menschen, denen das Leben größtenteils nur mit Hilfe von Büchern gelingt. Darüber hinaus skizziert Goran Petrovic das Leben in Belgrad und Serbien fast durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch nach. Ein sehr lesenswertes Buch, das mit dem renommierten NIN-Preis ausgezeichnet worden ist.