Alle trugen rote Stoffstreifen über Kreuz an ihre Brust geheftet. Einige saßen an ihren Feuerstellen, andere schienen mit Packen beschäftigt. Hier herrschte fast noch mehr Bewegung als auf den Gassen der Stadt. Ursula sah nicht nur Männer, sondern zu ihrem Erstaunen viele Frauen und Kinder. Die Kleider der Leute waren ärmlich, viele der Zelte schienen provisorisch. Sie hatte mehr Wagen und Karren erwartet, aber es sah so aus, als seien die meisten losgezogen mit kaum mehr als ihren eigenen Kleidern am Leib
Das ist der erste Eindruck der Protagonistin Ursula in Stefan Nowickis Roman Die Kreuzfahrerin von den Reisegenossen. Sie sind so wie sie dem Ruf des Predigers Peter dem Einsiedler gefolgt. Sie möchten nach Jerusalem pilgern, um so von allen Sünden befreit zu werden. Vorher hat es in Regensburg, wo Ursula lebt, einen schrecklichen Vorfall gegeben: Die Pilger haben die jüdische Bevölkerung dazu zwingen wollen, zum christlichen Glauben überzutreten und unter denen, die sich geweigert haben, ein Blutbad angerichtet. Außerdem haben sie das Judenviertel geplündert und eine Feuersbrunst entfacht. Ursula ist ihnen gegenüber mehr als skeptisch, aber der Wunsch, von all ihren Sünden befreit zu werden, ist größer als die Angst.
Die Handlung spielt Ende des 11. Jahrhunderts. Die christliche Kirche ist bereits geteilt und der Papst hält sich in Cluny, Südfrankreich, auf. Es tobt ein Machtkampf zwischen weltlicher und geistlicher Macht und die Fronten sind so verhärtet, dass der Kaiser einen Gegenpapst und der Papst einen Gegenkaiser aufgestellt hat.
Das Buch ist vorwiegend aus der Perspektive Ursulas geschrieben, die sehr früh beide Eltern verloren hat und lange als Magd auf einem Bauernhof lebt. Ursulas Leben scheint typisch für diese Zeit, es gibt viele interessante Details aus dem Leben auf einem Bauernhof unter einfachsten Bedingungen. Neu war damals etwa der Gebrauch einer Sense:
Am nächsten Tag brachte der Bauer ein neues Werkzeug. Nur der Jungbauer und der Knecht durften damit arbeiten. Der Bauer hatte zwei Hühner und ein bereits kräftig gewachsenes Ferkel dafür eingetauscht. Es waren zwei große Sicheln, an langen Stilen, mit einem sehr langen, nicht ganz so stark wie bei der Sichel gebogenen Schneidblatt aus Eisen. Sie waren so scharf, dass man nicht mehr das Gras als Büschel halten musste. Mit einem kreisförmigen Schwung ließ man das Blatt durch das Gras fahren, und es schnitt dabei die Halme durch. Da das Gras nun aber nicht mehr in Büscheln dalag, war eine neue Arbeitsteilung nötig. Der Knecht und Ludger schnitten, Ingrid, Ute und Arnulf rafften das Schnittgut mit dem Rechen zusammen, und Ursula mit den Kleinen musste das Gras aufhäufen
Da sich sonst niemand aus der Bauersfamilie interessiert, hat Ursula als junges Mädchen das Glück, von der kräuterkundigen Großmutter in die Kunst des Heilens eingeführt zu werden:
Für Ursula waren die folgenden Wochen wie ein Rausch. Sie wurde nicht müde, Neues zu lernen, und all das, was sie erfuhr, bewahrte sie in ihrem Kopf auf wie in einem Schatzkästchen. Schon bald begann Ester zu überprüfen, was das Mädchen von den Eigenschaften der Pflanzen und ihren Erscheinungsbildern behalten hatte. Zu ihrer großen Freude zeigte sich, dass Ursula nicht nur immer weniger Fehler machte, sondern auch fast jeden Satz der Alten so gut wie wörtlich behalten hatte
Nach und nach wird der Jungbauer immer aufdringlicher. Die Großmutter sieht sich genötigt, Ursula das Rezept eines geheimen Kräutertranks anzuvertrauen, mit dem sie eine Schwangerschaft verhindern kann. Doch dann stirbt die Großmutter und Ursula hat die Hoffnung, von dem Jungbauern Ludger geheiratet und Bäuerin auf dem Hof zu werden.
Zu Beginn des Buches ist Ursula Kreuzfahrerin und hochschwanger. Als heilkundige Frau hat sie die Pilger, die ständig in kriegerische Auseinandersetzungen geraten, gemeinsam mit einer Freundin begleiten dürfen:
Um nicht als gemeine Huren zu gelten, schmückten beide sich nicht mit Beutegut, sondern trugen nur sehr wenig Schmuck. Auch ihre Kleidung hielten sie einfach und ohne bunte Bänder. Sicher, auch sie waren nicht abgeneigt gewesen, von Zeit zu Zeit mit einem einigermaßen ansehnlichen und manierlichen Kerl das Lager zu teilen, wenn dabei noch ein entsprechendes Geschenk damit verbunden war, aber sie hielten sich das Recht vor, nicht jeden zu nehmen. Noch in der Heimat hatten sie klar gestellt, dass ihre Beteiligung am Pilgerzug vor allem der Unterstützung all der Wundärzte, Knochensäger und Bader dienen sollte. Ihr Vorrat an Kräutern und das Wissen über den Nutzen waren ihre vorrangige Ware gewesen
Seitdem Ursula aber Roderich auf dem Pilgerzug kennen gelernt hat, gibt es für sie keine anderen Männerbekanntschaften mehr. Außerdem kann sie hochschwanger kaum noch die Hausarbeit erledigen. Nur das Kräutersammeln bewältigt sie noch einigermaßen problemlos und erinnert sich während dessen an die Frau, der sie ihr Heilwissen zu verdanken hat und ihr zum Teil schweres voheriges Leben.
“Die Kreuzfahrerin” zeigt den Alltag einer Magd schonungslos und anschaulich. Es ist ein Schicksal, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint und das wirkt sehr beklemmend. Doch das Buch ist gut recherchiert und sehr lesenswert!
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