Die Unperfekten

In Die Unperfekten von Tom Rachman liest Ornella de Monterecchi jeden Tag in der Zeitung. Sie ist die Witwe eines italienischen Diplomaten und die englischsprachige internationale Zeitung gibt ihr Halt, seitdem ihr Mann 1976 nach Riad versetzt worden ist. Jetzt lebt sie wieder in Rom und hat immer noch ein Abonnement der Zeitung. Aber Ornella de Monterecchi liest niemals die aktuelle Ausgabe, sie bedient sich aus ihrem riesigen Zeitungsarchiv:

Aus Langeweile hatte sie angefangen, die Zeitung zu lesen, eines der wenigen internationalen Presseerzeugnisse, die in den späten Siebzigern im saudischen Königreich zugänglich waren. Und weil sie nie gelernt hatte, wie man eine Zeitung richtig liest, las sie alles der Reihe nach wie bei einem Buch, Spalte für Spalte, von links nach rechts, eine Seite nach der anderen. Sie las jeden Artikel und fing keinen neuen an, bevor sie den anderen durch hatte, wodurch sie für jede Ausgabe mehrere Tage brauchte. Anfangs fand sie vieles verwirrend

Als die Verleger die Zeitung einstellen, da sie über viele Jahre Verluste gebracht hat, will Ornella de Monterecchi darauf dringen, dass sie weiter erscheint. Doch der Portier kann ihr nur noch die leer geräumten Redaktionsräume zeigen.

Ornella de Monterecchi ist eine von elf Personen aus dem Umfeld der in Rom redaktionell betreuten US-amerikanischen Zeitung, deren Niedergang Tom Rachman in Die Unperfekten beschreibt. Es sind aufmerksame und sehr detailreiche Porträts, die einen Augenblick in dem Leben der Personen beschreiben, der fast immer eine entscheidend fatale Wende bringt. Dabei ist die Erzählpersepektive niemals aburteilend, sondern beleuchtet die verschiedenen Facetten der Charaktere meist mit viel Verständnis.

Beispielsweise beschreibt Tom Rachman den Lebemann und Frauenheld Lloyd Burko, der die Zeitung seit ihren Anfängen kurz nach dem II. Weltkrieg mit Artikeln aus Paris versorgt. Jetzt hat seine vierte Frau einen Liebhaber, seine Kinder wollen keinen Kontakt mehr zu ihm und er ist pleite, denn er schafft es nicht mehr, Artikel an die Zeitung zu verkaufen. Arthur Gopal hingegen ist der Sohn eines berühmten Journalisten, der selbst nie wirklich über die Betreuung der Rubrik Rätsel-Brezel hinaus gekommen ist. Erst der Tod seiner Tochter könnte beruflich eine Wende einleiten. Beruflich sehr erfolgreich ist andererseits der Nachrichtenchef der Zeitung. Seit ein paar Jahren hat er auch eine glückliche Beziehung, aber dann erfährt die ganze Redaktion von dem einmaligen Seitensprung seiner Lebensgefährtin inklusive Nacktfoto per Email.

Am Ende der insgesamt elf Porträts gibt es auch einen Text, der die Geschichte der Zeitung von ihren Anfängen bis in die Gegenwart beschreibt. Dadurch wird klar, dass nicht die Stärken und Schwächen der unperfekten Redaktionsmitglieder den Bankrott der Zeitung hervor rufen, sondern dass die wirtschaftliche Lage der Zeitung bereits vor rund zwanzig Jahren schwierig war:

Anfang der neunziger Jahre begann der Erfolg der Zeitung unter Milton Berber abzuflauen – wie die gesamte Branche hatte auch die Zeitung mit einem Rückgang der Leserschaft zu kämpfen. Erst hatte das Fernsehen den Zeitungen jahrelang das Wasser abgegraben, dann hatten ihnen die Nachrichtenkanäle, die vierundzwanzig Stunden am Tag sendeten, den nächsten Schlag versetzt. Morgenblätter, die am Nachmittag davor gemacht wurden, waren nicht mehr aktuell genug

Mit diesem Erklärungen versucht der Vertreter der Verlegerfamilie die entsetzten Redaktionsmitglieder zu beschwichtigen. Er selbst hat die Zeitung noch nie gelesen und wollte beruflich eigentlich immer etwas ganz anderes machen.

Höchstgebot

Bei einer Auktion geht in Höchstgebot von Thomas Hoeps und Jac. Toes unerwartet eine Version des Bildes Scheherezade von René Magritte für die Rekordsumme von 43 Millionen Euro an einen anonymen Bieter. Der Kunstexperte Robert Patati, ein Bekannter der Eigentümerfamilie, hat das Gemälde begutachtet und weiß, dass es wertvoll ist:

Wegen seiner herausragenden Qualität, weil nur drei aller anderen Scheherezade-Versionen in Öl gemalt waren und weil es das war, was die Auktionatoren mit leuchtenden Augen >jungfräulich< nannten – ein Bild, das niemals wirklich auf dem Markt zu haben gewesen war

Wegen der Finanzmarkt-Krise rechnet Robert Patati mit einem hohen Verkaufspreis, denn seiner Erfahrung nach flüchten sich viele den klassischen Anlagen misstrauende Investoren in Kunst als Geldanlage. Dieser Rekordverkaufspreis übersteigt jedoch auch die kühnsten Erwartungen und auf der Auktion wird Geschichte geschrieben, denn das Bild ist nun das teuerste Gemälde René Magrittes und der Maler schnellt auf der Liste der Auktionsweltrekorde um zwanzig Listenplätze nach vorne unter die Top-Ten.

Im Folgenden überschlagen sich die Ereignisse: Das Gemälde wird trotz größter Sicherheitsvorkehrungen auf dem Transport zu dem neuen Eigentümer in den Niederlanden gestohlen. Robert Patati, der Teil des Sicherheits-Konvois ist, verfolgt die Diebe, kann an einem Bahnübergang in Maastricht die Schienen mit seinem Auto nicht mehr rechtzeitig verlassen und verursacht ein Zugunglück mit vielen Verletzten. Obwohl er den Kamerateams vor Ort und der Polizei gegenüber immer wieder auf den Diebstahl des Gemäldes hinweist, hält ihn die Polizei für einen Terroristen, der das Zugunglück absichtlich herbei geführt hat.

Fast zur selben Zeit gibt es einen Brand bei der Roeder AG in Aachen, deren Eigentümer die Familie ist, der die Scheherezade von René Magritte zuvor gehört hat. Der Tod einer leitenden Wissenschaftlerin in den Flammen und der Materialschaden drohen die Existenz der Firma  zu zerstören:

Die Stahljalousien hingen verformt  vor den Fenstern. Ein paar Lichtstreifen fielen auf zwei Netzwerk- und Serverschränke, die mitten im Zimmer aufgestellt waren. Sie waren leer. Hier waren also die Firmendaten aufbewahrt worden. Vermutlich hatte man die Überreste der Server schon gesichert. Die Montageschienen, Kabelführungen und Lüftereinheiten waren geradezu zerbröselt. Kaum vorstellbar, dass diese Hitze nicht auch die auf den Servern gespeicherten Kronjuwelen des Labors selbst vernichtet hatte

Die Ermittler aus Deutschland und den Niederlanden finden heraus, dass der Käufer des Bildes Eigentümer einer Firma ist, die auf einem ähnlichen Gebiet wie die Roeder AG arbeitet: der Robotik. Handeln die beiden Firmen womöglich nur zum Schein mit Kunst?

Höchstgebot ist bereits die dritte Co-Produktion des deutschen Autors Thomas Hopes und des Niederländers Jac. Toes, der zeitgleich mit der deutschen Veröffentlichung unter dem Titel Het boogste bod auch auf niederländisch erschienen ist. Für ihren ersten gemeinsamen Krimi sind Thomas Hoeps und Jac. Toes für den niederländischen Krimipreis Gouden Strop nominiert worden. Mit Höchstgebot ist ihnen wieder ein sehr lesenswerter Krimi gelungen, in dem neben dem spannenden Kriminalfall auch die deutsche und niederländisch Mentalität immer wieder das zentrale Thema ist.

Das Vamperl

Das Vamperl ist ein kleiner Vampir mit einer ganz außergewöhnlichen Eigenschaft: An Stelle von Blut saugt er den Menschen das Gift aus der Galle und bewirkt so, dass sie alle freundlich werden. Nachdem er sich in einem Spinnennetz verfangen hat, findet ihn seine Ziehmutter Frau Lizzi und päppelt ihn auf. Nach und nach verliert sie ihre anfängliche Angst vor ihm und  befreit ihren Vamperl sogar aus den Klauen eines Professors. Der hat den kleinen Vampir wegen seiner Fähigkeit, die Menschen freundlich zu stimmen, gefangen genommen. Schließlich unterstützt Frau Lizzi ihren Liebling sogar bei der Suche nach einer passenden Vampirin, obwohl sie sich das Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen kann. Insgesamt vier Bände der Vamperl-Geschichten, deren geistige Mutter die österreichische Schriftstellerin Renate Welsh ist, sind bisher erschienen.

Das Vamperl, Band 1 der Damperl-Serie, ist unter dem Titel Little Vampie auch auf Englisch erschienen. Vamperl soll nicht alleine bleiben und Wiedersehen mit Vamperl, Band 2 und 3, sind als App für das iPad erhältlich. Die App enthält nicht nur den Text der Vamperl-Geschichten, auf ein Fingertippen hin kann man sich den Text auch von einer Sprecherin vorlesen lassen oder selbst das Vorgelesene aufnehmen und wieder abspielen lassen. Die tollen Illustrationen von Heribert Schulmeyer begleiten den übersichtlich gestalteten Text und umrahmen ihn. Es lohnt sich, am illustrierten Rand des Textes auf Entdeckungsreise zu gehen, denn einige der Bilder bewegen sich, wenn man sie antippt.

Außerdem kann man die App auch als Puzzle und Malbuch verwenden. Nur mit den Fingern kann die Malvorlage mit unterschiedlichen Farben ausgemalt, natürlich jeder Zeit wieder korrigiert und gelöscht oder auch gespeichert und verschickt werden. Außerdem gibt es auch einen leicht verständlichen Text, der erklärt was man mit der App machen kann und wie es geht. So macht das Lesen noch mehr Spaß!

Medienkunst aus Japan

Anlässlich der hundertfünfzig-jährigen deutsch-japanischen Freundschaft war einer der Schwerpunkte des European Media Art Festival (EMAF) 2011 Medienkunst aus Japan. Machiko Kusahara, Professorin an der Waseda-Universität und Gast-Dozentin an der UCLA, hat im Rahmen eines Vortrags einige bedeutende Strömungen der japanischen Kunstszene vorgestellt.

Laut Machiko Kusahara ist bemerkenswert, dass die japanische Bezeichnung für ‚bildende Kunst‘ erst mit der Öffnung zur westlichen Kultur im 19. Jahrhundert aufgetreten ist. Japan sei ein Sonderfall, die japanische Kunstszene habe sich vorher weitestgehend unabhängig vom Rest der Welt entwickelt. Wenn auch das westliche Kunstverständnis in Japan früher unbekannt gewesen sei, habe der ästhetische Gedanke im Alltag der japanischen Kultur trotzdem eine große Rolle gespielt, aber eher in Form von Haiku, Bonsai-Gartenkunst, Blumenarrangements, bemalten Schiebetüren oder etwa bei einem Kartenspiel, das auf mittelalterlichen Kurzgedichten mit Illustrationen beruht habe.

Einer der bekanntesten japanischen Medienkünstler Japans der Gegenwart sei Nobumichi Tosa. Unter dem Namen Maywa Denki entwickelt er beispielsweise Roboter-Instrumente und komponiert mit ihnen Musik oder Verlängerungsschnüre in der Form des Skeletts eines Fisches, eine Armbanduhr mit Telefondrehscheibe, mit der man die Zeitansage anrufen kann sowie neben vielen anderen Dingen einen ‚lachenden Roboter‘. Der ‚lachende Robote‘ sei insofern etwas Besonderes, da er keinerlei praktische Funktion habe. Im Allgemeinen hätte japanische Medienkunst neben einem außergewöhnlichen Design eine Funktion und sei eng mit der Industrie und der Massenkultur verwoben. Westliche Künstler wie der Franzose Marcel Duchamps, der auf einer Ausstellung in Japan mit nutzlosen bunten Schallplatten vertreten war, konnten in Japan kaum Käufer finden.

Medienkunst aus Japan: Ausstellung im Rahmen des emaf

Westliche Einflüsse seien in Japan aber an einigen Stellen im 20. Jahrhundert deutlich erkennbar beispielsweise habe einer der bedeutendsten Manga-Zeichner Osamu Tezuka eine Version des Fritz-Lang-Films Metropolis als Comic-Film realisiert. Die heutige japanische Medienkunst stehe im Wesentlichen in der Tradition etwa von Akira Kanayama, der 1957 Bilder mit ferngesteuerten kleinen Autos angefertigt habe, die mit Tinte Linien auf das Blatt gefahren beziehungsweise gemalt hätten, oder der Künstlerin Atsuko Tanaka, die 1955 Glocken in einem Galerieraum angeordnet habe und die von den Besuchern mit Hilfe eines Klingelknopfes zum Klirren gebracht werden konnten. Die fünfziger und sechziger Jahre seien auch sehr durch die Gruppe Jikken Kobo geprägt worden, die mit ihren experimentellen Workshops die japanische Performance-Kunstszene begründet hätten. Die Arbeit der Künstler von Jikken Kobo sei auch sehr prägend für die Film-Avantgarde der Nachkriegszeit gewesen, besonders erwähnenswert sei der Film Giurin (Silver Wheels) von Toshio Matsumoto und die Arbeiten des Video-Künstlers Fujiko Nayaka. Yoshiharu Tsuge habe mit Neijishiki eine der bedeutendsten Arbeiten des alternativen Manga geschaffen, dessen Geschichte auch verfilmt worden sei. Bedeutende Künstler dieser Zeit seien darüber hinaus Katsuhiro Yamaguchi, Namjune Paik und Yoko Ono. In den sechziger und siebzieger Jahren des letzten Jahrhunderts sei die japanische Kunstszene besonders aktiv gewesen.

Seit 1983 Nintendo Famicom auf den Markt gebracht habe, beworben als ‚Entertainment-Konsole‘, sei die japanische Kunstszene eng an die Computerindustrie geknüpft. Künstler und Designer entwickelten mit Computerspezialisten Spiele und sonstige Anwendungen. Kunst sei in Japan ein Alltagsprodukt für jeden und häufig auch Entertainment. Es gebe viele kunstvoll designte Alltagsgegenstände wie beispielsweise Kopfhörer in Form einer Banane, verzierte USB-Sticks oder Lunchboxes.

Für die jetzige Kunstszene bedeutende Künstler seien etwa Masaki Fujihata oder Yoichiro Kawaguchi. Ein weiteres Beispiel für die Verknüpfung von Technik und Kunst sei die Firma PetWORKs von Kazuhiko Hachiya, der neben Projekten wie einem Mailing-Dienst mit computeranimierten kleinen Figuren auch die Flug-Maschine Open Sky verwirklicht hat. Tenori-on sei ein sehr populäres Videospiel, das der Künstler Toshio Iwai entwickelt habe. Ryuichi Sakamoto sei sehr einflussreich auf die Avantgarde-Musikbewegung und die Kunstszene überhaupt in Japans.

Ein weiterer wichtiger Vertreter der japanischen Kunstszene, Ryoto Kuwakubo, hat im Rahmen der diesjährigen Ausstellungsreihe des EMAF  The Tenth Sentiment gezeigt. Dabei schängelt sich eine Modelleisenbahn, an die eine Lichtquelle angebracht worden ist, durch den mit verschiedenen Gegenständen bestückten Ausstellungsraum und projiziert tanzende, sich bei der Fahrt des Modellzuges ständig verändernde Schatten an die Wand. Erinnert fühlen darf sich der Zuschauer dabei an die Schattenaufnahmetechniken der Laterna Magica aus dem 17. Jahrhundert und die Experimente des ungarischen Fotografen, Malers und Kunstlehrers László Moholy-Nagy. Außerdem ist die Fahrt der Bahn nach Ansicht von Machiko Kusahara eine Form von mitate-e – ein in der japanischen Kunst gebräuchliches Stilmittel, eine Sprache des Sehens und der Interpretation, die ermöglicht, etwas anderes und ungewöhnliches hinter den Gegenständen erkennen.

Medienkunst aus Japan: Buchcover "Hybridkultur" von Yvonne Spielmann

Yvonne Spielmann hat die zeitgenössische japanische Kunst in ihrem Buch Hybridkulturir.gif wissenschaftliche betrachtet. Sie ist Research Professor und Chair of New Media an der University of the West of Scotland. Unter dem Eindruck, dass „auf internationalen Ausstellungen und Festivals, die sich in den neunziger Jahren verstärkt den seinerzeit „neuen“ interaktiven und virtuellen Medienanwendungen, dreidimensionalen Computeranimationen, Netzwerkkünsten, Cyberspace- und Internetprojekten zuwandten, unter der Vielfalt der Arbeiten vor allem die ästhetisch-technischen Beispiele aus Japan herausragten“, hat sie die neuen Medien an der „Schnittstelle von Ästhetik und Technologie“ untersucht. In dem Buch werden globale Trends aber auch kulturelle Besonderheiten wie etwa der Einfluss des Buddhismus auf die japanische Kultur und damit auch auf die Kunst weltweit nachvollziehbar.

Counterblast

Der kanadische Medientheoretiker Herbert Marshall McLuhan, wie er mit vollem Namen hieß, hat in seinem Leben mehrere Abhandlungen veröffentlicht, die sich mit Kommunikation und Medien beschäftigen. Geboren 1911, hat er nach einem Studium der englischen Literatur auch 1942 seinen Doktor in Trinity Hall, Cambridge, erhalten. Thema der Doktorarbeit war eine kritische Betrachtung der Kommunikation über 2000 Jahre hinweg. Marshall McLuhan ging davon aus, dass die unterschiedlichen Formen der Rede beziehungsweise des Ausdrucks die Wahrnehmung der Menschen formen und so den Inhalt der Diskurse und des Lernens ganzer Kulturen bestimmen, ohne dass es direkt ins Bewusstsein vordringen muss.

Im Jahr 1954, dem Erscheinungsjahr der ersten Fassung von Counterblast, hat Marshall McLuhan an der Universität von Toronto gelehrt und bereits The Mechanical Bride: Folklore of Industrial Man (1951) veröffentlicht. Im Vorwort zu The Mechanical Bride hat Marshall McLuhan auf das Paradox hingewiesen, dass Kreativität und Zerstörung häufig durch dieselben gesellschaftlichen Kräfte ausgelöst werden, dass aber Veränderungen immer auch ein positives Potential in sich bergen und moralische Empörung bei der Betrachtung nicht hilfreich sei. Damit grenzt er sich ab zu einem anderen bekannten Intellektuellen mit kanadischen Wurzeln: Wyndham Lewis. Der Maler und Schriftsteller, den Marshall McLuhan persönlich kannte und über dessen Arbeit er auch bereits eine Abhandlung geschrieben hat, veröffentlicht 1954 ein neues Buch. In Self Condemned beschreibt Lewis die Lebensumstände in einer Stadt namens Momaco. Am Ende flieht der Protagonist aus einem Momaco, das zu einem Friedhof aus Muschelgehäusen geworden ist. Der Verfasser der Einleitung zu Counterblast, W. Terrence Gordon, erklärt, dass viele in ‚Momaco‘ Toronto zu erkennen glaubten und dass Wyndham Lewis in seinem Buch das Schicksal des ‚Neuen Menschen‘ beschreiben wollte.

Marshall McLuhan war nach Ansicht von W. Terrence Gorden einer der ersten, der das neue Buch Wyndham Lewis‘ gelesen hat, es findet sich eine Anspielung darauf in der Einleitung Marshall McLuhans zu Counterblast. Zunächst bezieht er sich allerdings konkret auf Lewis` 1914 veröffentlichtes Journal Blast:

In 1914, a few weeks before the War, Wyndham Lewis the painter put out BLAST. He set out to create a new vortex of thought and feeling consistent with the changed conditions of life, work, and society. He was too late. The imbalance of thought and feeling in the new technological world of England and Europe was extreme

Beide, Wyndham Lewis und Marshall McLuhan, waren W. Terrence Groden zu Folge davon überzeugt, dass Kunst und technologische Entwicklungen untrennbar miteinander zusammen hängen. Marshall McLuhan war der Ansicht, das die neuen Medien eine entscheidende Rolle dabei spielen, dem Menschen in der technikdominierten Welt die Sicht zu vernebeln:

In AMERICA AND COSMIC MAN Lewis saw North America as a benign rock crusher in which all remnants of European nationalism and individualism were happily reduced to cosmic baby powder. The new media are blowing a lot of this baby powder around the pendant cradle of the New Man today. The dust gets in your eyes

Counterblast, als Titel Bezug nehmend auf das Journal ‚Blast‘ von Wyndham Lewis, wollte ein ‚Gegenschlag‘ gegen diese Verwirrung sein und einen klaren Blick auf die neuen Medien, ihre Herkunft, Verzweigungen und Richtung eröffnen:

COUNTERBLAST 1954 blows aside this dust for a few moments and offers a view of the cradle, the bough, and the direction of the winds of the new media in these latitudes

Was nun nach der Einleitung folgt, ist ein Text, der aus vielen Überschrift-artigen Teilen mit vielen Leerzeichen, Großbuchstaben und Aufzählungen besteht. Es wirkt fast wie ein Gedicht, mit vielen Wortspielen und Metaphern:

… USA

COLOSSUS of the South, horizontal

HEAVYWEIGHT flattening the

canadian imagination

CBC  BBC  NBC  CBS

nets of the BIG GAME hunters, lairs of

the NEW BABBITTS …

Am ehesten wirkt es, wie die Dozentin amerikanischer und kanadischer Literatur und Marshall-McLuhan-Spezialistin, Elena Lamberti, es genannt hat: wie ein Mosaik. Es besteht aus einer Einleitung, einem Teil voll kurzer, überschriftartiger Textpassagen, einem ‚Media Log‘, in dem über die Geschichte und Bedeutung von Büchern und Print-Presse, mal in sehr kurzen, mal in längeren Passagen gesprochen wird und ‚FIVE SOVEREIGN FINGERS TAXED THE BREATH‘, wo Eindrücke über die moderne Stadt und das Leben dort, Medien und Zivilisation formuliert werden.

W. Terrence Gordon berichtet in der Einleitung von dem Gerücht, dass Marshall McLuhan Exemplare von Counterblast 1954 an Straßenecken und in Zigarrettengeschäften ‚unter der Ladentheke‘ hat verkaufen lassen, in der Hoffnung, die Lektüre würde ein grundlegendes Umdenken in der Gesellschaft hervorrufen. Viel später hat es eine überarbeitete Veröffentlichung von Counterblast in Buchform gegeben. Aber in der Faksimile-Ausgabe von 1954, die anlässlich der transmediale und des 100. Geburtstags Marshall McLuhans veröffentlicht worden ist, sind viele für das ganze Werk Marshall McLuhans wegweisende Thesen formuliert.

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