Placebo-Effekte

Mit „Placebo-Effekte. Heilende Zeichen, toxische Texte, ansteckende Informationen“ ist Martin Andree ein spannendes und gut lesbares Buch gelungen. Der Autor zeigt, wie stark etwa die Wirkung eines zuversichtlichen Arztes, die Farbe einer Tablette oder die Qualität versprechende Marke des verabreichten Medikaments auf den Patienten sein kann. Offenbar kann ein Placebo unter Umständen sogar eine ähnlich stark schmerzstillende Wirkung hervorrufen wie Morphium.

Schamanismus und Doping-Mittel 

Buchcover Placebo-EffekteEine besondere Stellung im Heilungsprozess nimmt für Martin Andree das Ritual des Arztbesuchs und die Behandlungs-Performance insgesamt ein. Anschaulich beschreibt er, dass eine moderne ärztliche Behandlung immer noch Grundzüge des Schamanismus in sich trägt und der Kontakt zum Arzt sogar mit der Wirkung einer Droge vergleichbar sein kann.

Dazu begibt sich der Autor auf die Suche nach den Ursprüngen der Heilkunst. Er weiß von einigen recht abenteuerlichen Praktiken zu berichten, die eher an eine Zauber-Show als an einen Arztbesuch erinnern. Für die Gegenwart lässt sich etwa die Musik als Doping-Mittel neu entdecken oder der Grund, warum Superfood in bestimmten Fällen sogar tatsächlich gesundheitsfördernd sein kann.

Positive und negative Erwartungen

Das Gegenteil des Placebo- ist der Nocebo-Effekt. Gemeint sind damit Faktoren, die eine Krankheit oder körperliche Beeinträchtigung erwarten lassen. Als Beispiel führt Martin Andree eine Schulklasse an, die vermutete, dass jemand heimlich hochprozentigen Alkohol in die Getränke gemischt hatte. Im Krankenhaus stellte sich heraus, dass die Mehrheit der Schüler gar nicht mit Alkohol in Berührung gekommen war. Dennoch waren die Symptome nicht vorgetäuscht. Offenbar genügte die Erwartung, dass es so sein muss, um die Schüler tatsächlich krank zu machen. Ähnliche Wirkungen können laut Martin Andree auch entsprechende Meldungen in den Massenmedien auslösen.

Ich kann das Buch wirklich jedem empfehlen!

Insgesamt ist „Placebo-Effekte. Heilende Zeichen, toxische Texte, ansteckende Informationen“ ein verständlich geschriebenes Buch, das viele spannende und teilweise überraschende Anregungen bietet. Sie reichen von Tipps, mit denen sich die sportliche Leistungsfähigkeit positiv beeinflussen lassen kann über die Effekte der Werbung bis hin zu Techniken, mit denen sich durch „positives Denken“ mehr Wohlbefinden im Alltag herstellen lässt. Und natürlich sieht man seinen Arzt und dessen Behandlungsmethoden nach der Lektüre des Buches in einem ganz neuen Licht

Zu den Details:

Beeindruckend gut ist Martin Andree eine interdiszinplinäre Herangehensweise an das Thema gelungen. Mit seinem gut verständlichen und kenntnisreichen Text liefert er sicherlich für Interessierte mit ganz unterschiedlichem Kenntnisstand einen guten Einstieg in das Thema. Eine bemerkenswert lange und auch aus geisteswissenschaftlicher Sicht gut sortiere Liste verwendeter Literatur befindet sich im Anhang des Buches.

Sprache und die Illusion von Kontrolle

Dennoch bin ich über ein paar Details gestolpert. Auf den Seiten 173 und 174 beschäftigt sich Martin Andree mit einem Auszug aus „Arbeit am Mythos“ von Hans Blumenberg und beschreibt die „Illusionen von Kontrolle“, die aus seiner Sicht eine große Ähnlichkeiten mit den Wirkungen des Placebo-Effekts aufweise. Dem stimme ich grundsätzlich zu, aber aus meiner Sicht geht es in dem Text um weit mehr.

Wichtigstes Moment bei der Erzeugung eines Gefühls von Vertrautheit ist die Sprache. Es ist die Kommunikation über das, was als potentiell bedrohlich empfunden wird, die beim Subjekt Erleichterung auslöst: „Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher heraus gehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat“ (AaM, S. 12).

Würde man diesen Vorgang auf den Arztbesuch übertragen, dann wäre sicherlich bereits das Gespräch über die Krankheitssymptome ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Genesung. Das „Erkennen“ der Angst und Unwohlsein hervorrufenden Faktoren durch den Arzt würde demnach bereits Grund zur Hoffnung auf Heilung zu geben. Vermutlich auch dann, wenn die Diagnose zunächst noch nicht eindeutig ist.

Unterschiedliche Narrative

Wenn das Buch von Martin Andree eine Schwäche hat, dann ist es die, dass es in „Placebo-Effekte“ zu wenig um die Wirkung von Worten geht. Beispielweise entsteht in dem Text oft der Eindruck, es gäbe nur ein einziges Narrativ, das sich für alle Patienten des Arztes voraus setzen ließe. Davon ist leider nicht unbedingt auszugehen.

Sicherlich gibt es bestimmte Erwartungen, die die meisten Patienten an einen Arztbesuch haben. Aber sie variieren womöglich schon von Region zu Region. Erst recht kompliziert wird die Verständigung zwischen Arzt und Patient, wenn der Kranke eine andere Sprache spricht oder aus einem völlig anderen Kulturkreis stammt.

Auch in Hinblick auf Nachrichten, TV, Werbung, Musik, Film usw. bleibt unklar, was sich heute als eine Art „Allgemeinwissen“ voraussetzen lässt. Jeder kann seinen Medienkonsum nach eigenen Interessen selbst gestalten kann und sich „nur“ über die Themen informieren, die ihn unbedingt interessieren. Die Kenntnis bestimmter Nachrichten und Themen aus den Massenmedien kann also nicht bei jedem vorausgesetzt werden.

Probleme bei der Kommunikation

Es gibt also durchaus eine ganze Reihe von guten Gründen, warum es nicht „funktioniert“ zwischen Arzt und Patient. Auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht trägt jegliche menschliche Kommunikation etwas unbeherrschbares in sich. Folgt man etwa Walter Benjamin, dann handelt es sich dabei um die „Magie“ oder die „Unendlichkeit“ der Sprache. Jacques Lacan etwa verweist ausdrücklich mit Saussure auf das „Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten“ als einen Bereich, der durch das Unbewusste dominiert wird.

Bei Ernst Mach erweisen sich Schwierigkeiten in der Kommunikation als weit mehr als ein rein sprachliches Problem. In „Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Phsychischen“ legt er dar, wie sehr Menschen in ihrem eigenen Wahrnehmungsapparat gefangen sind. Eine Wahrnehmung der Welt außerhalb der eigenen Sinneseindrücke bleibt den Menschen versperrt. Das betrifft auch Wissenschaftler, die sich bei ihren Forschungen um größtmögliche Objektivität bemühen.

Eine Volksmedizin?

Auch in Hinblick auf den Katharsis-Effekt wäre aus meiner Sicht eine Berücksichtigung weiterer Aspekte interessant. Nicht nur Aristoteles sah in dem kathartischen Effekt eine Möglichkeit zur moralischen Erziehung der Zuschauer, der vielleicht sogar das Potential einer Volksmedizin in sich trägt. Auch Lessing erwartete konkret eine Erziehung des Zuschauers durch die Tragödie zu mehr Empathie, Schiller hoffte auf eine „Veredeldung des Charakters“ der Bevölkerung durch die Beschäftigung mit den schönen Künsten.

Adorno/Horkheimer hingegen haben in „Dialektitk der Aufklärung“ untersucht, wie die Kunst oder generell jedes Thema unter dem Diktat eines totalitären Regimes zu einem Manipulationsinstrument für die Massen gemacht wird. Für Adorno/Horkheimer bedeutet, gut gelaunt zu sein, einverstanden zu sein und so werden die Massenmedien hier zu einer Art Antidepressivum für die Bevölkerung.

Real Magic

In dem Stück Real Magic von der Experimentaltheatergruppe Forced Entertainment ist es ein bisschen wie im Zirkus oder in einer Fernseh-Quiz-Show zur besten Sendezeit: Ein Kandidat hat die Aufgabe, ‚nur’ ein einziges Wort zu erraten. Nicht irgendein Wort, sondern genau das Wort, das ein anderer sich gedanklich vorstellt und auf einem Pappschild geschrieben vor sich hochhält. Natürlich sind dem Rate-Kandidaten die Augen verbunden, so dass er das Wort auf der Pappe nicht lesen kann. Er muss ‚nur‘, wie der Spielleiter aufmunternd versichert, das eine Wort erraten, das aus Millionen von Wörtern ausgesucht worden und laut und deutlich auf der Pappe zu lesen ist. Der Kandidat windet sich in Unterwäsche und mit verbundenen Augen auf seinem Stuhl und rät. Leider ist die Antwort falsch, auch zwei weitere Versuche scheitern.

Rate-Show mit Pappschildern in Unterwäsche

Mit dem Versagen wird immer sehr konstruktiv umgegangen. Es gibt keine Vorwürfe oder gar Beschimpfungen, statt dessen Bedauern und jede Menge Ermunterung: Dieses Mal hat der Kandidat es noch nicht geschafft, aber beim nächsten Versuch wird es bestimmt klappen. Alle drei Darsteller auf der Bühne werden nacheinander zum Spielleiter, Kandidaten oder gedanklichen Träger des zu erratenden Wortes, der selbstverständlich immer auch Halter des Pappschildes ist. Wie um die falschen Gedanken zu vertreiben und die richtigen heraufzubeschwören, wechseln Richard, Claire und Jerry immer wieder die äußere Erscheinung und treten mal in Unterwäsche, als haariger gelber Vogel mit und ohne Kopf oder in einem viel zu weiten Anzug und dunkler Langhaar-Perücke mit Pony an. Wieder und wieder versuchen die drei sich im Gedanken-Raten und der jeweilige Spielleiter gibt den geduldigen Animateur, während der Träger des Pappschildes sich zwar meist um eine möglichst ansprechende und kreative Zurschaustellung der Pappe bemüht, aber sonst eher gelangweilt um sich blickt. Oft muss er selbst nachsehen, was eigentlich auf dem Schild steht.

Tanz, Striptease und ein zotteliger gelber Vogel

Erstaunlicherweise wird auch mit der Zeit das Gedankenraten nicht leichter. Immer durchdringender wird vor allen Dingen das künstliche Gelächter aus den Lautsprechern, auch weil das tatsächliche Lachen des Publikums immer lauter wird und das konservierte Gelächter vom Band verstärkt. Während dessen präsentieren die drei auf der Bühne zwischen den Rate-Runden kleine Tanzeinlagen, Striptease, kreative Bekleidungsideen oder demonstrieren anschaulich und eifrig, dass sich einem zotteligen Vogel mit riesigem Schnabel nicht mehr effektiv die Augen verbinden lassen.

Telepathie und absurdes Theater

Doch die Konstellation nimmt mehr und mehr absurde Züge an und erinnert zunehmend an Warten auf Godot: Wenn es nur käme, das richtige Ergebnis, dann müsste das Warten ein Ende haben und dann käme er wohl endlich, der mühsam verdiente Erfolg. Doch die Kandidaten tun sich nach wie vor schwer, sich von lieb gewonnenen Antworten zu trennen oder sich auch nur das Wort auf der Pappe zu merken, das sie ja eigentlich vor allen Dingen in Gedanken bei sich tragen sollten. All das gelingt ihnen nicht, obwohl sie doch eigentlich ‚nur‘ das richtige Wort unter Millionen anderer heraussuchen müssten, um die richtige Antwort zu geben und das Spiel zu beenden. Absurd?

Die Experimentaltheatergruppe Forced Entertainment hat sich im Jahr 1984 gegründet und ist seit zehn Jahren Koproduktionspartner von PACT Zollverein, Choreografisches Zentrum NRW. Erst kürzlich ist Forced Entertainment mit dem renommierten Henrik-Ibsen-Theaterpreis ausgezeichnet worden. In ihren Stücken bieten sie zuverlässig eine innovative Mischung aus Slapstick, Satire, anspruchsvollem Theater sowie Formaten der Massenmedien und verlieren den schwarzen Humor auch bei ernsten Themen nie ganz. Real Magic knüpft im besten Sinne an diese Serie an.

Foto: ©Hugo Glendinning

Höllenritt Wahlkampf

Von 1990 bis 2012 war Frank Stauss, Inhaber der Werbeagentur ‘Butter’, mit seinem Team meist auf Seiten der SPD an allen großen Wahlkämpfen beteiligt, zumindest in Deutschland. Gerhard Schröder hat er gegen Angela Merkel unterstützt, Hannelore Kraft gegen Norbert Röttgen oder Peer Steinbrück gegen Jürgen Rüttgers und mit ihnen viele Siege und auch manche Niederlage gefeiert beziehungsweise einstecken müssen.

Pläne und Strategien

Mit ‘Höllenritt Wahlkampf – Ein Insider-Bericht’ veröffentlicht Frank Stauss eine Art Tagebuch mit Gedanken, Plänen, Strategien und Notizen zur damals aktuellen Gefühlslage, das bezeichnenderweise in die zwei großen Kapitel ‘Er redet frei – Gott steh uns bei!’ und ‘Live-Report aus dem Maschinenraum der Macht’ eingeteilt ist. Erfahren lässt sich auf knapp zweihundert Seiten, wie der Politikwissenschaftler aus Heidelberg nach erfolgreicher Teilnahme am Wahlkampf Bill Clinton gegen George Bush in den USA nach Düsseldorf kam und zunächst zum Wahlkämpfer der SPD nach der Wiedervereinigung wurde.

Wahlkämpfer nach der Wiedervereinigung

Unterhaltsam und mit zum Teil schwarzem Humor erklärt er, wie wichtig der Kandidat für einen erfolgreichen Wahlkampf ist, wie Strategien erarbeitet werden, welche Rolle mittlerweile das Internet dabei spielt oder eben auch nicht und skizziert mit manchmal erstaunlich knappen Strichen die politische und soziale Situation in den betreffenden Gegenden zur Zeit des Wahlkampfs. All das vermittelt nicht nur einen umfassenden Eindruck davon, wie, ob und zu welchem Preis sich Erfolg gestalten lässt, sondern macht das Buch auch zu einem spannenden Zeitdokument.

Klug, lustig und nachdenklich

“Endlich ein ehrliches Buch über Politik. Klug, lustig, nachdenklich, ausgezeichnet geschrieben – und das von einem Werber. Lesen!”, lobt der Journalist und TV-Moderator Hajo Schumacher und auch Jost Kaiser, Autor von “Als Helmut Schmidt einmal…”, zeigt sich begeistert: “Frank Stauss hat einen harten Sprachsound , ohne zynisch zu sein. Ein grandioses Buch”.

Maori-Nacht

Er ist unauffällig mit dunklem Hemd und dunkler Hose bekleidet, hält eine Gitarre in der Hand und spricht Englisch. Von Weitem hat er vielleicht am ehesten Ähnlichkeit mit einem Country-Sänger. Doch der Klang seiner Gitarre, die Geschichte und die Art seines Vortrags bei der Maori-Nacht haben allenfalls entfernt etwas von dem, was den wilden Westen und seine Musik im Allgemeinen ausmacht. Die Klänge der Gitarre sind meist reine Untermalung für eine Geschichte, die von Walen, Kanus, dem Meer, dem Himmel, Wäldern und Menschen inmitten dieser urgewaltigen Natur handelt.

Insgesamt betrachtet hat dieser Geschichtenerzähler vielleicht mehr von einem Darsteller, als einem Musiker. Denn viele markante Sequenzen der Geschichte unterstreicht er nicht mit Klängen, sondern mit ausladenden und manchmal fast überdeutlichen Gesten. Die Geschichte wirkt dadurch ungemein lebendig und fesselnd. Selbst wenn ich nicht immer jedes Wort verstehe, kann ich der Geschichte problemlos folgen und bin mehr als sonst gespannt, wie es wohl weiter gehen mag. Der faszinierende Geschichtenerzähler heißt Joe Harawira und erzählt in diesem Moment gerade im Rahmen des internationalen literaturfestival berlin eine der unzähligen Geschichten der Maori auf traditionelle Weise.

Noch vor einigen Jahren sei es undenkbar gewesen, die alten Maori-Geschichten öffentlich vorzutragen, erklärt der gebürtige Neuseeländer Joe Harawira im Anschluss an seine Performance. Die Sprache der Maori sei im 19. Jahrhundert von der Kolonialmacht als heidnische Sprache eingestuft worden und habe an den Schulen nicht mehr unterrichtet werden dürfen. Erst in den 1980er Jahren habe eine Wiederbelebung der maorischen Sprachkultur eingesetzt und seit 1987 sei Maori wieder offizielle Landessprache in Neuseeland.

Traditionell habe ein Geschichtenerzähler innerhalb der Maori-Gesellschaft eine überaus wichtige Funktion, da er die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft verbinde. Die Maoris glaubten, dass sich ein Volk anhand der traditionellen Geschichten mit Hilfe der Vergangenheit besser für die Zukunft wappnen könne. Jeder habe seine persönliche Geschichte zu erzählen und indem man es tue, stelle man eine persönliche Verbindung zwischen sich, der Vergangenheit und der Gemeinschaft her.

Bücher seien generell eigentlich nicht die richtige Form, um Maori-Geschichten zu verbreiten, erklärt in dieser Nacht auch die neuseeländische Schriftstellerin und Literaturdozentin Cathie Dunsford. Vermutlich sei die Verbreitung der Maori-Erzählungen mit Hilfe von DVDs der geeignetste Weg. Cathie Dunsford zeigt beim internationalen literaturfestival berlin eine echte Performance, bestehend aus den dunklen vollen Klängen einer großen Muschel, in die ein Mundstück eingearbeitet worden ist, ergänzt durch Gesang und Erzählung. Obwohl sie ganz ähnliche Grundelemente verwendet wie Joe Harawira, hat ihre Darbietung eine ganz andere Stimmung und Tonlage. Mit Hilfe der Universität von Auckland, an der sie arbeite, seien sie dabei, neue und für die Maori-Kultur passende Wege der Präsentation ausfindig zu machen. Sie habe bereits gemeinsam mit anderen Maori-Frauen eine neue Form von Literatur entwickelt, die sich wahrscheinlich am ehesten mit Lyrik vergleichen ließe. Starke Frauen, die sich zum Wohl der Allgemeinheit engagierten, gehörten zur Tradition der Maori genauso wie deren ganz stark ausgeprägtes Umweltbewusstsein. Dabei gebe es trotz aller Gemeinsamkeiten zwischen den Maori auch teilweise groessere Unterschiede zwischen den einzelnen Stämmen. Dank der Geschichten könnten sie sich aber austauschen und hätten die Chance, eine Verständigung zwischen den Stämmen herzustellen. Insofern könne Literatur Anknüpfungspunkte für ein besseres Miteinander bieten. Unterschiede gebe es im Prinzip in allen Gesellschaften, sie selbst habe bei ihren Lesungen in Deutschland etwa Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen feststellen können. Über ihren Erfolg in Deutschland freue sie sich sehr und ganz besonders darüber, dass die Neuseeländer sich und ihre Kultur im Rahmen der Frankfurter Buchmesse präsentieren könnten.

Für eine neue Sicht auf die Geschichte und damit die Rolle der polynesischen Kultur hat vor allen Dingen James Belich mit einer Fernsehsendung über die Geschichte der Polynesier gesorgt, die auf einem seiner Bücher basiert hat. Beim internationalen literaturfestival berlin legt er dar, dass dadurch das Thema in die Öffentlichkeit gelangt sei und man in Folge dessen langsam begonnen habe, die Polynesier als ein Volk zu begreifen, das den halben Erdball bevölkert und geprägt habe. Nur mit Hilfe von Kanus sei es den Vorfahren der Polynesier gelungen, den gesamten Pazifik-Raum, von Hawaii bis Neuseeland zu bevölkern, eine unglaubliche Leistung. Sie seien nachweislich sogar bis Madagaskar und Süd-Amerika gelangt. Europäer sollten die Kultur der Polynesier respektieren.

Im Rahmen der Maori-Nacht betont auch Hamish Clayton, der im Gegensatz zu Joe Harawira und Cathie Dunsford ein neuseeländischer Schriftsteller ohne Maori-Vorfahren ist, Neuseeland sei ein Land mit zwei Kulturen. Die ersten Geschichten, an die er sich erinnere, seien Maori-Geschichten. Natürlich sei er auch mit den Geschichten über Koenig Arthur, Robin Hood oder Grimms Märchen aufgewachsen. Die Geschichten der Maori seien aber etwas ganz Besonderes, da sie keine Mythologie seien, sondern tatsächlich passiert wären.

Cathie Dunsford: Manawa Toa, Lied der Selkiesir.gif, Cowrieir.gif

Hamish Clayton: Wulfir.gif

James Belich: The Victorian Interpretation of the Racial Conflict: the British, the Maori and the New Zealand Warir.gif

James Belich: Making Peoples: A History of the New Zealanders until 1900ir.gif, Paradise Reforged. A History of the New Zealanders from The 1880ies to the Year 2000ir.gif, Replenishing the Earth. The Settler Revolutioon and the Rise of the Anglo-World, 1870ies-1920iesir.gif

Witi Ihmaera: Wale Riderir.gif

Paula Morris: Rangatirair.gif

Alan Duff: Warriorsir.gif

Peter Walker: Der junge William Foxir.gif

Die große Zukunft des Buches

In “Die große Zukunft des Buches” entwickeln Jean-Philippe Tonnac, Essayist und Journalist und Umberto Eco, Professor für Semiotik, Schriftsteller und Mittelalterexperte, sowie der Drehbuchautor und Schriftsteller Jean-Claude Carrière eine Perspektive für die Zukunft der Medienlandschaft. Generell sehen sie das Ältere nicht durch Veränderungen bedroht:

Das Ebook wird das Buch nicht töten. Ebenso wenig wie Gutenberg und seine geniale Erfindung von heute auf morgen den Gebrauch von Kodizes unterbunden hat oder den Handel mit Paryrusrollen und volumina. Die jeweiligen Praktiken und Gewohnheiten bestehen nebeneinander weiter, und nichts lieben wir mehr, als das Spektrum unserer Möglichkeiten zu erweitern. Hat der Film die Gemälde getötet? Das Fernsehen den Film? Willkommen seien daher Rechner und periphere Lesegeräte, die uns über einen einzigen Bildschirm Zugang zur mittlerweile digitalisierten Universalbibliothek gewähren

Sie stellen zum Beispiel fest, dass das Internet seine Nutzer in die Zeit des Alphabets zurück versetzt. Manche hätten früher fälschlicherweise angenommen, dass Film und Fernsehen das Lesen nahezu überflüssig machen würden. Doch das Gegenteil sei der Fall. Womöglich könnte es durch den Computer sogar eine Rückkehr zur oralen Tradition geben, ein bisschen wie zur Zeit Homers:

Wir würden eine Rückkehr zur Oralität erleben, wenn der Computer das, was wir sagen, direkt verarbeiten könnte

Als ein weiteres wichtiges Thema sehen sie die enormen Schwierigkeiten, dauerhafte Speichermöglichkeiten für unser kulturelles Gedächtnis zu finden. Alle Kulturen zu allen Zeiten hätten sich mit diesem Problem konfrontiert gesehen. Jean-Claude Carrière glaubt, dass auch heute nicht überall ein Interesse daran besteht, das Alte dauerhaft zu erhalten. Filme beispielsweise sollten immer wieder neu produziert werden:

Seit den zwanziger, dreißiger Jahren ist der Film in Europa zur >Siebten Kunst< avanciert. Seit damals hält man es jedenfalls für der Mühe wert, Kunstwerke zu bewahren, die nunmehr ein Teil der Kunstgeschichte sind. Aus diesem Grund entstanden die ersten Filmarchive, zunächst in Russland, dann in Frankreich. Aber aus amerikanischer Sicht ist der Film keine Kunst, noch heute gilt er dort als erneuerbares Produkt. Zorro, Nosferatu, Tarzan müssen immer wieder neu gemacht werden, die alten Vorbilder, die alten Bestände also weggeworfen werden. Das Alte, insbesondere wenn es von hoher Qualität ist, könnte dem neuen Produkt ja Konkurrenz machen

Durch all die Möglichkeiten, die den Menschen zur Verfügung ständen, lebten wir in einer Zeit ständiger Veränderung. Uns werde ständige Mobilität und permanentes Lernen aufgezwungen. Alle Gesprächsteilnehmer sind sich einig, dass es eine ganz zuverlässige Vorhersage für die Zukunft niemals geben kann. Die Geschichte sei voll solcher Irrtümer. Aber es gelingt den Gesprächsteilnehmern, die aktuellen Probleme mit vielen Anekdoten und sehr kenntnisreich in Zusammenhang zu den großen Fragen der Menschheit zu setzen und das Neue der Gegenwart als etwas zu enttarnen, das es in mehr oder weniger veränderter Weise immer schon gegeben hat.

Blutiger Sommer

In “Blutiger Sommer” von Gabriella Wollenhaupt und Friedemann Grenzen befinden wir uns im Jahr 1846 in Berlin. Dort stellt gerade ein Mann Frauen beim Baden im Fluss nach und im Judenviertel werden verstümmelte Frauenleichen gefunden. Justus von Kleist, der gerade die Jüdin Rachel aus Westfalen geheiratet hat und leitender Ermittler ist, liest zufällig bei einer gemeinsamen Spazierfahrt eine junge Frau auf, die vor dem Verbrecher fliehen konnte und das Gesicht des Mannes beschreiben kann.

Dennoch ist die Ermittlungsarbeit sehr schwierig. Es gibt noch keine DNA-Abgleiche und die Behörden sind ausschließlich auf Zeugenaussagen angewiesen. Ein Netz von Spitzeln durchzieht ganz Berlin und versorgt die Polizei mit mehr oder weniger zuverlässigen Informationen. Die Machtverhältnisse machen es der Polizei zusätzlich schwer, den richtigen Täter zu finden:

Ermittlungen der Polizei gegen Juden sind oft kompliziert und werden von vielen genau beobachtet. Die Vaterländischen jubeln, wenn es gegen die Juden geht, und die Liberalen des Jungen Deutschlandwarten darauf, dass die Polizei Fehler macht, um den Behörden Judenhass zu unterstellen. Der Polizeidirektor weiß, dass viele Polizisten tatsächlich antisemitisch eingestellt sind und dass Übergriffe keine Seltenheit sind. Diese Vorfälle werden oft von der Vossischen Zeitung angeprangert und pauschalisiert – was wiederum die amtlichen Zensoren alarmiert

Als auch eine adlige Dame unter den Todesopfern ist, dringt der Polizeipräsident von Puttkamer auf eine schnelle Lösung des Falles und lässt einen unschuldigen Mann verhaften. Als das Morden trotzdem weiter geht, gelingt es Justus von Kleist nur durch eine geschickte Intrige, die Ermittlungen gegen des Widerstand des Polizeipräsidenten wieder aufzunehmen.

Gabriella Wollenhaupt und Friedemann Grenz entwerfen ein unterhaltsames, spannendes und differenziertes Bild der politischen und sozialen Situation Preußens um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Einige Charaktere des Kriminalromans hat es wirklich gegeben. Ich finde Blutiger Sommer sehr aufschlussreich und lesenswert.

Gernhardts ewiger Kalender

Kalender kauft oder verschenkt man eigentlich gegen Ende des Jahres oder zu Beginn. Bei Gernhardts ewiger Kalender ist das anders. Denn die App ist, wie der Name schon sagt, ein ewiger Kalender und beinhaltet für jeden Tag des Jahres eine kleine Geschichte in Textform oder Bild und Ton, die immer wieder in die Saison passt.

Sobald man die App aufruft, erscheint eine für den aktuellen Tag verfasste Geschichte. An manchen Tagen gibt Robert Gernhardt in seinem ewigen Kalender ein Gedicht zu lesen, an anderen ist es eine kleine Comic-Geschichte, die sich wie ein Film abspielen lässt und deren Text der Autor selbst liest. Alle Geschichten haben einen unverkennbaren humorvoll-lakonischen Charakter, wobei gerade die Gedichte ein bisschen an Wilhelm Busch oder Christian Morgenstern erinnern. Sie sind leicht lesbar und dabei klug und tiefsinnig. Die Themen sind mal jahreszeitlich, dann ist offenbar der Start eines Kinofilms vor Jahrzehnten Auslöser für einen satirischen Kommentar, dann eine Erfindung aus Wissenschaft oder Technik, mal ist es der Alkohol oder Erlebnisse mit oder in Umgebung der Deutschen Bahn – ein bunt zusammengewürfelter Mix.

Hinzukommend wird leicht verständlich erklärt, wie man etwa von einer Geschichte zur nächsten blättern oder die Geschichten per Email verschenken kann. Gernhardts ewiger Kalender ist eine sehr aufwändig und detailreich gestaltete App, die mir viel Spaß gemacht hat und die sich auf iPhone und iPad wirklich genießen lässt.

Tödliche Fortsetzung

Martin Kanther lebt allein in einer der besten Wohngegenden Frankfurts und ist Alkoholiker. Das führt in Tödliche Fortsetzung von Marc-Oliver Bischoff immer wieder zu Konflikten, auch mit den Nachbarn. Manchmal wird er mitten in der Nacht von der Polizei aufgegriffen und muss nach Hause gebracht werden. Er selbst hat daran für gewöhnlich keine Erinnerung:

Seine Nachbarin stand mit dem Baby auf dem Arm im Treppenhaus und hielt ihm einen Briefumschlag unter die Nase. >Herr Kanther, ich möchte nicht länger Ihren Ersatzschlüssel aufbewahren.< Kanther sah sie verdutzt an. >Wir sind aufgewacht, als die Polizei mit Ihnen im Schlepptau mitten in der Nacht geklingelt hat, weil Sie nicht in Ihre Wohnung reinkamen. Mein Mann muss morgens früh raus und der Kleine hat eine Stunde lang geschrien.< Sie stand unbeweglich wie eine Schaufensterpuppe vor ihm, den Umschlag in der ausgestreckten Hand. Kanther hatte die Befürchtung, dass sie gleich in Tränen ausbrach. Das fehlte ihm noch. >Tut mir Leid, kommt nicht wieder vor<, erwiderte er und schnappte den Umschlag

Zu Geld ist Martin Kanther vor einigen Jahren gekommen, als sein Kriminalroman-Debut Drachentöter die Bestseller-Listen erobert hat. Das Buch ist ein Skandal gewesen. Es handelt von Morden an Prostituierten, deren Beschreibung so realistisch ist, dass Ermittler Aufmerksam geworden sind und Parallelen zu Verbrechen erkannt haben, die kurz vor Erscheinen des Buchs in Frankfurt tatsächlich verübt worden sind. Martin Kanther wird als Verdächtiger verhaftet. Er gelangt in die Schlagzeilen und einige Medien verreissen Drachentöter. Letztlich gelingt es den Behörden aber nicht, Martin Kanther die Taten nachzuweisen. Ein Journalist erinnert sich:

Entweder haben sie ihm nicht die richtigen Fragen gestellt oder er hatte ein wasserdichtes Alibi, sonst hätten sei ihn nicht wieder frei gelassen. Aber die Sache bescherte ihm eine ungeheure Popularität

Durch den Skandal verdient Martin Kanther so viel Geld, dass er sich eine Wohnung in einer teuren Gegend leisten und seinen ausschweifenden Lebenswandel mit viel Alkohol finanzieren kann. Ein unerwarteter Glücksfall für ihn, Kind eines zu Tode gekommenen Bergmanns, dessen Mutter sich nach dem Unfall das Leben nahm. Die Erinnerung macht ihm bis in die Gegenwart zu schaffen. Und dann meldet sich ein alter Bekannter aus der Vergangenheit und versucht, ihn wieder in krumme Geschäfte hinein zu ziehen.

Tödliche Fortsetzung enthält einige sehr brutale Szenen beispielsweise beschreibt Marc-Oliver Bischoff den Mord an einer Prostituierten aus der Sicht ihrer sechsjährigen Tochter. Davon abgesehen ist das Buch spannend und enthält interessante Einblicke in das soziale Gefüge des Rotlichtmilieus.

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Syrische Videofilmer

Videokunst ist seit der Gründung des European Media Art Festival (emaf) vor 25 Jahren zentraler Schwerpunkt des Festivals. Anlässlich des Jubiläums haben in diesem Jahr namhafte Experten allgemeine Veränderungen in der Mediennutzung, deren Auswirkungen auf künstlerisches Arbeiten und die Bedeutung von Netzwerken diskutiert.

Charlotte Bank hat die Besonderheiten erörtert, mit denen syrische Filmemacher seit Beginn der Unruhen in Syrien zu kämpfen haben. Es sei generell schwierig geworden, sich ein objektives Bild von den Geschehnissen in Syrien zu machen, da das Regime seit Ausbruch der Proteste keine ausländischen Journalisten mehr in das Land lasse. YouTube habe sich als Informations-Plattform etabliert, da es häufig keinen anderen Weg gebe, sich der Öffentlichkeit mitzuteilen oder an Informationen über die Situation im eigenen Land zu kommen. Es gebe viele Online-Video-Aktivisten, die die Ereignisse in ihrer Nähe dokumentierten und im Internet veröffentlichten. Viele von ihnen seien keine professionellen Journalisten, Filmemacher, Künstler oder Intellektuelle.

Überhaupt seien syrische Intellektuelle nicht die treibende Kraft der Protestbewegung gewesen. Auch vor Beginn der Unruhen sei eine oppositionelle Haltung zum Regime nicht gut aufgenommen worden. Syrische Künstler seien durch die Zensur gezwungen worden, eine komplexe Sprache aus Metaphern und Symbolen zu entwickeln. Manchmal könne man den Eindruck bekommen, dass Zensur fast ein Geschenk sein könne, da ohne diesen Druck die Ausdrucksformen nicht so vielfältig geworden wären.

Im April 2011 hätten syrische Filmemacher dennoch eine Solidaritätserklärung mit den Protestierenden verfasst und zur Unterstützung für die Regimegegner aufgerufen. Es habe danach noch einige Zeit gebraucht, bis die ersten Filme von syrischen Künstlern zur Lage in Syrien veröffentlicht worden seien. Das hänge damit zusammen, dass die syrische Kunstszene nicht besonders etabliert gewesen sei und dass die syrischen Filmemacher nicht vorschnell hätten reagieren wollen.

Um Probleme jetzt offen und direkt ansprechen zu können, gebe es sowohl für Künstler als auch für Nicht-Professionelle in Syrien die Notwendigkeit, anonym zu arbeiten und publizieren. Das Regime gehe mittlerweile gegen jeden vor, der eine Kamera habe und betrachte sie als einen der schlimmsten Feinde. Wieder bringe die besondere Situation der Videofilmer eine bestimmte Ästhetik hervor. Da syrische Videofilmer schnell arbeiten müssten, seien die Filme häufig kurz und auf Wesentliches reduziert. Außerdem sei alles möglichst vage gehalten, Personen und Gegenden meist nicht genau zu erkennen. Jeder habe eigene Konzepte, wie er sich, seine Familie und die Menschen in seiner Umgebung schütze. Zwei Beispiele seien der Film The Sun’s Incubator des syrischen Künstlers Ammar al-Beik, der auf der Biennale von Venedig gezeigt worden ist, und der anonym veröffentlichte nicht-professionelle Film Smuggling 23 Minutes of Revolution.

The Coming Storm

Vielleicht lässt sich der Inhalt des neuen Stücks The Coming Storm der Kompanie Forced Entertainment einigermaßen treffend beschreiben, indem man sagt, es thematisiert, was zu einer guten Geschichte gehört und was eher nicht. Oder vielleicht sollte man besser sagen, alles im Stück dreht sich darum, wie Menschen am wirkungsvollsten Aufmerksamkeit auf sich lenken können? Oder noch besser: Vielleicht sollte man sagen, dass der Kampf um die Blicke des Publikums das zentrale Thema in The Coming Storm ist?

Gleich am Anfang philosophiert eine der insgesamt sechs Frauen und Männer auf der Bühne in einer Art Vortrag darüber, welche Elemente aus ihrer Sicht eine gute Geschichte ausmachen. Sie erklärt, dass eine gute Geschichte etwa Überraschungen, Mysteriöses, Missverständnisse oder auch spannende Charaktere brauche und veranschaulicht ihre Thesen durch Beispiele. Dabei stehen die übrigen Männer und Frauen in einer Reihe neben ihr und schauen ins Publikum. Der Vortrag wirkt wie eine Art Prolog, denn alle Personen tragen noch normale Alltagskleidung und die Bühne ist leer. Nur rechts und links am Rand stehen erkennbar Kleiderstangen voll bunter Kleidungsstücke, ineinander gestapelte Stühle, ein Klavier.

Plötzlich reißt ein Schauspieler das Mikrofon an sich und beginnt ganz unvermittelt eine Geschichte zu erzählen, die angeblich einem seiner Freunde, einem IT-Spezialisten, zugestoßen ist. Der Freund habe eine Kreuzfahrt gewonnen, das Schiff sei gekentert, aber der Freund habe sich an die afrikanische Küste retten können, dort einen Job gefunden, sich in seine Chefin verliebt, sie später auch geheiratet, doch er habe sich von ihr trennen müssen, als sie ihr die Einreise nach HongKong durch die Behörden verweigert worden sei. Dort habe er dann allein ein neues Leben anfangen müssen. Es ist eine lustige Geschichte, voller Brüche, komischer Sensationen, überraschender Wendungen, auch klischeehaft.

Nacheinander nehmen sich die sechs Personen das Mikrofon aus der Hand, um dann selbst eine Geschichte über andere oder sich selbst zu erzählen. Dabei reißen sie sich das Mikrofon gegenseitig einfach weg. Nur manchmal sind sie dabei noch so höflich, sich bei ihrem Vorredner zu bedanken, während sie ihm das Mikrofon dann doch bestimmt aus der Hand nehmen. Nach und nach hat die Atmosphäre etwas von einer Gruppentherapie. Als eine Frau aber davon zu erzählen beginnt, dass sie einige Tage lang von mehreren Männern eingesperrt worden sei und deren Sexsklavin sein musste, gehen die anderen sofort dazwischen. Sie nehmen ihr das Mikrofon aus der Hand und beginnen, eine unverfängliche Geschichte zu erzählen, ohne sie weiter zu beachten. Eine andere Frau möchte später ihre Geschichte niemandem mehr zumuten. Sie sei nicht sicher, ob die anderen sich davon wieder erholen könnten. Ihre Mitstreiter auf der Bühne reagieren darauf sehr anerkennend und nehmen ihr das Mikrofon gerne sofort wieder ab.

Nach und nach entdecken diejenigen, die gerade keine Geschichte erzählen können, die Accessoires am Rande der Bühne. Sie ziehen sich schillernde Kleider und Perücken an, spielen lautstark auf unterschiedlichen Musikinstrumenten, tanzen oder laufen mit nacktem Oberkörper und einer Monstermaske über dem Kopf um den Erzählenden herum. Schließlich gehen sie dazu über, dem Erzählenden dicke Äste in die Hand zu drücken, hinter denen er fast verschwindet, versuchen mit Requisiten wie einer lärmenden Windmaschine der Geschichte eine unerwartete Wendung zu geben und den Erzählenden so aus dem Konzept zu bringen, laufen mit auffälligen Verkleidungen um ihn herum, tanzen vor ihm oder schmieren ihm hässliche bunte Schminke ins Gesicht. In ihrem Streben nach Aufmerksamkeit und Ablenkung entstehen auf der Bühne viele archetypische Charaktere wie ein Gespenst, ein Krokodil, das ein bisschen etwas von einem bösen Wolf hat, ein Wald oder auch eine Art Prinzessin. Es ist so viel los auf der Bühne, dass eine Frau gar keine Geschichte mehr erzählen mag, sondern das Publikum nur flehentlich darum bittet, die Augen nicht von ihrem Tanz abzuwenden, ganz egal, was sonst noch auf der Bühne passiere.

Erhalten bleibt, dass die Erzählenden sofort unterbrochen werden, sobald ihre Geschichte eine ungute Wendung nimmt, von Tod, Gewalt, Zerstörung oder Politik handelt und absehbar ohne Happy-End bleiben muss. Die Geschichten werden banaler, handeln meist von Dingen, die angeblich anderen, meist irgendwelchen Freunden, passiert sein sollen. Immer wieder schlägt jemand den Erzählenden vor, sich vorzustellen, wie ihre Geschichte als Hollywood-Film präsentiert werden könnte und welche Hollywood-Schauspieler die Rollen darin übernehmen sollten.

Manchmal wagt sich einer, der im Laufe des Stückes verschiedene Monstermasken trägt oder mit einem Sack über dem Kopf und einem Strick in der Hand herum läuft, zu fragen, ob in die Geschichte nicht doch ein ‘killer’ eingebaut werden könnte. Immer wird der Wunsch abgeschmettert. Dennoch besteht er weiter darauf, dass in der Geschichte wenigstens ein kleines Verbrechen vorkommen müsse, wenn es darin schon keinen ‘killer’ geben dürfe. Der Verbrecher müsse auch nicht unbedingt zur Familie des Erzählenden gehören, er könne akzeptieren, dass der Verbrecher in einer anderen Straße wohne oder auch nur zu Besuch in der Stadt sei. Auch diese abgemilderten Wünsche werden ihm rigoros verwehrt. Eine Frau brüllt, sie könne nicht ertragen, dass jeder täte, was er wolle. Man habe sich schließlich darauf geeinigt, dass gewisse Themen nicht angeschnitten werden dürften. Immer wieder kommt es darüber zu Auseinandersetzungen und jeder besänftigt seine Kritiker auf seine Weise. Am Ende des Stücks wird Bilanz gezogen und alle auf der Bühne anwesenden gefragt, wie es ihnen geht. Die Gruppe toleriert allenfalls, dass der Befragte sagt, er fühle sich nicht direkt wohl, habe aber gute Hoffnung auf Besserung. So kann ein Mann ganz am Ende doch zufrieden behaupten, die Stimmung auf der Bühne ließe sich abschließend als melancholisch-optimistisch bezeichnen.

Forced Entertainment inszeniert The Coming Storm mit viel schwarzem Humor und tollem Klamauk. Für mich war es ein gelungener Abend.

Foto: ©Hugo Glendinning