Liebespaare bitte hier küssen!

Auf dem Cover ist ein Tretboot vor herbstlicher Kulisse mit deutlich erkennbaren Gebrauchsspuren und der Ziffer ‘Zwei’ am Bug zu sehen. Es stimmt als Titelbild gut auf die folgenden Abbildungen des Fotobuches Liebespaare bitte hier küssen! von Jess Jochimsen ein. Danach sind viele Fotografien von Alltäglichem zu sehen, dessen äußeres Erscheinungsbild bereits etwas ramponiert ist. Dazu gehören etwa die staubigen Fensterrahmen, hinter deren Scheiben sich jedoch liebevoll gestaltete Gardinen und Dekorationen erkennen lassen oder dieAbflüsse, die vor gepflegten, wenn auch etwas heruntergekommenen, Hausfassaden ins Leere laufen.

Die allermeisten Abbildungen zeigen jedoch Hinweis- und Verbotsschilder, die überwiegend wohl unfreiwillig komisch auf Sex-Shops, Wellness, Geschäftliches, Religiöses oder Romantisches hinweisen. Da lässt sich erfahren, dass an manchen Orten offenbar Erotik-Artikel liquidiert werden, sich die “Fleischer-Innung Berlin” tatsächlich Patin einer Pflanze Namens “Leberwurstbaum” nennen darf oder dass sich eine Freiburger Firma zumindest laut Schild mit “ANALSANIERUNG” und “OHRABDICHTUNG” zu beschäftigen scheint. Natürlich fehlen auch zahlreiche Hinweise darauf, wer wie, wann, wo und unter welchen Voraussetzungen parken darf nicht – an vielen Orten ganz offensichtlich ein sehr kompliziertes und manchmal sogar bedrohliches Thema.

Die Fotos wirken alle wie mitten aus dem Leben gegriffen und bebildern immer wieder den einfallsreichen Umgang der Bewohner des ‘städtischen Hinterlandes’ mit ihrer wirtschaftlichen Not. Beispielsweise ziert die Tür eines leerstehendes Ladenlokals ein Schild mit der Aufschrift ‘KEIN RESTAURANT MEHR’. Ergänzend sind Zitate und kleine, von Jess Jochimsen selbst verfasste, Anekdoten eingefügt, die das Buch zu einer humorvollen und tiefgründigen Studie des Lebens jenseits der funkelnden Prachtstraßen macht.

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Der Schneckenkönig

Der ehemalige Starpolizist Martin Nettelbeck ist in “Schneckenkönig” von Rainer Wittkamp vor drei langen Jahren zur Zentralen Serviceeinheit strafversetzt worden. Er hat einen Kollegen angegriffen und löst seitdem keine spektakulären Kriminalfälle mehr, sondern beschäftigt sich intensiv mit der Welt der Hängeregistraturem, Stempelkissen, Klebestifte und Kugelschreiber:

Die Tätigkeit war noch langweiliger als er vorher befürchtet hatte. Druckereieinheiten mit Multifunktionspapier auszustatten, Briefumschläge nach ISO 269 oder DIN 678 zu unterscheiden, Bleistifte nach einundzwanzig Härtegraden sortiert zu ordnen, von 9B über HB bis zu 9H – zweifellos das Grauen, der Gipfel der Langeweile. Konnte es etwas Öderes geben? Besonders für einen Kriminalbeamten, der für seinen beispielhaften Einsatz bei einer United-Nations-Mission im Kosovo mehrfach ausgezeichnet wurde? Der den Ruf hatte, die kompliziertesten Fälle zu lösen?

Doch plötzlich ergibt sich bei den Ermittlungen zu dem Mord an einem Mann aus Ghana ein Personalengpass und Martin Nettelbeck ist erst einmal zurück. Zunächst erweist sich der Fall als sehr schwierig, gemeinsam mit seinem jungen Partner Wilbert Täubner stößt er unter den Landsleuten des Toten auf eine Mauer des Schweigens.

Martin Nettelbeck sieht sich schon wegen mangelnden Emittlungserfolgs in Rekordzeit zurück in seine Bürobedarfshölle befördert. Doch nach einigem Zögern gesteht die faszinierende Philomena Baddoo, in deren Afro-Shop angeblich alle Fäden der Ghanaischen Gemeinde zusammen laufen, überraschend, dass es sich bei dem gesuchten Mann um einen ihrer Verwandten handele. Sie behauptet, dass er für das Missionswerk Ewige Erlösung aus Deutschland tätig gewesen sei. Und tatsächlich bestätigt der Leiter des Missionswerks, den Toten gekannt zu haben. Er und sein sehr professionell mit Büchern und DVDs arbeitender Missionierungs-Konzern hinterlassen bei den Ermittlern einen sehr zwiespältigen Eindruck:

Plötzlich war ihm klar, an wen ihn der Prediger erinnerte – an den Grundstückspekulanten Noah Cross in Roman Polanskis Filmklassiker Chinatown. Nicht nur das gleiche pferdeartige Gesicht, auch ihr Habitus war ähnlich. Der Habitus von Männern, die keinen Widerspruch gewohnt waren und ihn auch niemals dulden würden. John Huston, der Darsteller des Noah Cross, hatte seiner Filmfigur eine unwiderstehliche Mischung aus Charme und Zukunftsglauben gegeben, wohinter sich jedoch Kälte und Skrupellosigkeit verbergen. Nettelbeck fragte sich, ob es auch darin Parallelen zwischen Cross und Mattheuer gab

Abermals lässt Martin Nettelbeck sein eingerosteter kriminalistischer Spürsinn nicht im Stich. Er und sein Partner entdecken Verbindungen zwischen dem Missionswerk und einer zwielichtigen Neonazi-Partei, die gerade von einem westdeutschen Unternehmer aufgebaut wird und erst einmal vor allen Dingen in Ostdeutschland Wahlerfolge feiern soll.

Rainer Wittkamp hat vorher Drehbücher für Krimiserien wie SOKO Leipzigoder SOKO Wismar geschrieben. Schneckenkönig ist ein spannender und sehr lesenswerter Krimi, in dessen Mittelpunkt ein sympathisch eigenwilliger Kommissar mit einem Faible für Posaunenmusik steht.

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Psychopathen

Um kategorisieren zu können, wer als ‘Psychopath’ und damit als schwer gestört eingestuft werden muss, ist die Psychopathy Checklist entwickelt worden. Doch obwohl die allermeisten Psychopathen in den Hochsicherheitstrakten der Gefängnisse einsitzen, lassen sich die ‘Normalen’ laut Kevin Dutton, Forschungspsychologe am Calleva Research Center for Evolution and Human Sciencedes Magdalen College der Oxford Universityin vielen Fällen gar nicht so leicht von ihnen abgrenzen. Beispielsweise gibt es zwischen dem Gehirn eines Psychopathen und dem eines als ‘normal’ geltenden Menschen im Allgemeinen rein äußerlich keinen erkennbaren Unterschied. Außerdem sind es manchmal gerade Eigenschaften, die Psychopathen zugerechnet werden, wie Furchtlosigkeit, Selbstsicherheit, Charisma oder Skrupellosigkeit, die bestimmte Menschen beruflich besonders erfolgreich machen:

Ein Mensch kann zum Beispiel unter Druck eiskalt sein und etwa so viel Empathie zeigen wie eine Lawine (einigen von dieser Sorte werden wir später auf dem Börsenparkett wieder begegnen). Das bedeutet nicht automatisch, dass er auch gewalttätig, antisozial oder gewissenlos handelt. Ein solches Individuum weist zwar zwei psychopathische Merkmale auf und steht damit auf der >psychopathischen< Skala höher als jemand, dem diese Merkmale fehlen. Damit ist er aber noch weit entfernt von der Gefahrenzone derjenigen, die sämtliche psychopathischen Merkmale aufweisen

Mit Hilfe vieler spannender Experimente, Forschungsergebnisse und unterhaltsamer Anekdoten macht Kevin Dutton sich auf gut lesbare Weise auf die Suche nach der manchmal offensichtlich nur sehr schwer zu ziehenden Grenze. Dabei zeigt er viele Menschen, die zumindest in Teilen über herausragende Fähigkeiten verfügen. Wer hätte vermutet, dass Menschen mit gewissen psychopathischen Eigenschaften die besseren Zollbeamte sein oder sich unter Umständen für die Lösung sozialer Probleme als besonders gut geeignet erweisen können? Oder dass buddhistische Meditation bewirken kann, dass ein Mensch in bestimmten Momenten genauso gefühllos und unbeteiligt reagiert wie ein Psychopath?

Der Erfinder der Psychopathy Checklist, Robert Hare, lobt PSYCHOPATHEN. Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann von Kevin Dutton als “höchst anregendes Buch für alle, die die >psychopathische< Welt, in der wir leben, besser verstehen wollen”. Der Präsident der Society for the Scientific Study of Psychopathy, Scott Lilienfeld, sagt über das Buch: “Der unwiderstehliche Kevin Dutton ist wieder da. Diesmal mit einem pietätlosen Aufriss der hellen und dunklen Seiten der geheimnisvollen Psychopathen. Er liefert eine mitreißende Mischung von Wissenschaftlichem und Persönlichem und informiert und unterhält die Leser gleichermaßen”.

Drogen sollten legal werden

“Dass Schreiben Politik ist, schon im Akt des Niederschreibens und erst recht im öffentlichen Vortrag: Das ist immer wieder spürbar, gerade beim internationalen literaturfestival berlin“, schreibt Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele und damit Gastgeber des internationalen literaturfestivals berlin, in seinem Grußwort. Die Reihe Reflections sollte dem Politischen konkret Raum geben und Themen eine Plattform bieten, die möglicherweise auch weh tun. In diesem Rahmen haben die Mexikanerin Sabina Berman und die Kolumbianerin Laura Restrepo über die Situation in Lateinamerika berichtet. Sie kommen zu dem Ergebnis: Um die großen Probleme in Latein- und Süd-Amerika zu lösen, sollten Verkauf und Konsum von Drogen legal werden.

Man gehe davon aus, dass rund 100 Millionen Menschen in den USA und fast 35 Millionen Menschen in Europa Marihuana oder Kokain konsumierten, erklärt Sabina Berman. Die Drogen seien Teil des Lebensstils geworden. Dabei sei der Konsum im Allgemeinen straffrei, nur der Handel werde polizeilich und juristisch verfolgt. Das sei Heuchelei. Da beispielsweise ein in Kolumbien produziertes Gramm in den USA und Europa für das zehn- oder zwanzigfache weiter verkauft werden könne, gebe es einen regen Transit der Drogen von Süd- nach Nordamerika. Damit verbunden sei ein blutiger Drogenkrieg.

Vor sechs Jahren sei in Mexiko rund 33% des Landes in der Hand der Drogenkartelle und damit unregierbar gewesen. Um diesen Zustand zu ändern, habe der Präsident vor sechs Jahren einen strategisch ungeschickten Krieg gegen die Kartelle angefangen. Das Ergebnis sei, dass diesem Konflikt bis zum heutigen Tag rund 120.000 Menschen zum Opfer gefallen seien – also insgesamt mehr Tote als es im Vietnamkrieg gegeben hat. Heute seien rund 66% des Landes unregierbar. Vor allen Dingen problematisch sei, dass die Kartelle kopflos zerschlagen worden seien. Die davor in den Kartellen organisierten Menschen seien danach in wirre Banden ohne Führung zerfallen, darunter auch Kinder und Jugendliche.

Die Drogenkartelle hätten nun auch den letzten Rest Respekt vor der Regierung, ihrem früheren Partner, verloren. Sie seien jetzt sehr gut bewaffnet, meist besser als die Polizei, und diktierten den Politikern, was zu tun sei. Die USA handelten mit den Waffen, mit denen die Kartelle die Massaker verübten. Man verdanke den USA die Demokratie, aber dort sei man auch verantwortlich für den ungemein blutigen Krieg in Mexiko. Der Krieg müsse sofort beendet und die Sicherheit des Volkes zum obersten Ziel der Maßnahmen gegen die Drogenkartelle werden, nicht nur die Zerschlagung der Machtstrukturen. Sabina Berman wünscht sich einen niedrigschwelligen Krieg, von dem die Bevölkerung fast nichts bemerkt. Jugendlichen solle der Konsum von Marihuana erlaubt werden und Morde müssten von der Polizei verfolgt und geahndet werden.

Auch für Laura Restrepo ist die Legalisierung der Drogen die einzige Option. In Europa halte man Drogenhändler für eine Art Feudalherren und unterschätze die Gefahr. Krieg und Drogen seien zwei Seiten derselben Medaille. Das Problem reiche insgesamt von den Drogenfeldern in Kolumbien bis zu den Banken in den Industrienationen. Da die Drogenbosse teilweise besser bewaffnet seien als die Polizei, seien die staatlichen Institutionen unterhöhlt und es stelle sich die Frage, ob Zivilisation überhaupt unter diesen Bedingungen überhaupt noch möglich sei. Fälschlicherweise werde das Problem immer auf ‘die Droge’ reduziert. Tatsächlich seien die Schwierigkeiten sehr komplex. Es gebe einen ungezähmten Kapitalismus auf allen Ebenen, der die Konkurrenz einfache ausschalte. Er zeige sich in Form des eifersüchtigen Ehemanns, der seine Frau töte oder in der des Geschäftsmanns, der seinen Konkurrenten einfach ausschalte. Dahinter stehe ein ganzes System. In Kolumbien seien drei Mal progressive Präsidentschaftskandidaten umgebracht worden. Alonso Salazar habe eine Biografie über den bekanntesten Mörder Kolumbiens, Pablo Escobar, geschrieben. Pablo Escobar habe 1,5 Millionen Dollar am Tag eingenommen. Es seien enorme Kapitalströme, die der Drogenhandel fließen ließe.

Im Alltag sei es schwer geworden, sich aus dem Drogenhandel ganz heraus zu halten. Als Beispiel führt Laura Restrepo einen kleinen Ort in der Karibik an. Dort gebe es keine Hotels, nur ein paar Ferienwohnungen. Die Menschen dort hätten in erster Linie vom Fischfang gelebt. Doch der Fischbestand habe zu schwinden begonnen und die Fischer hätten angefangen, Kokapäckchen einzusammeln, die von Hubschraubern abgeworfen worden seien, um sie von dort aus weiter nach Norden transportieren zu lassen. Eines Tages habe sich das Gerücht verbreitet, dass ein junger Mann getötet worden sei. Er habe AIDS gehabt und die Dealer töteten jeden, der an AIDS erkrankt sei. Das habe bei den Menschen dort Angst ausgelöst. In einigen Dörfern seien mittlerweile Massengräber mit Opfern der Dealer entdeckt worden. Die Grenzstadt Ciudad Juarez sei im Moment der womöglich gefährlichste Ort der Welt.

Sabina Berman berichtet, dass sie und das ganze Team bei den Dreharbeiten zu Paradies der Mörder in Ciudad Juarez bedroht worden seien. Für die Dauer der Dreharbeiten seien sie in einem Hotel untergebracht gewesen. Jeder von ihnen habe manchmal am Abend weiße Blumen und Bilder von Geköpften in seinem Zimmer vorgefunden. Niemand habe sagen können, wie diese Gegenstände in die Zimmer gekommen gekommen seien, während 30 bewaffnete Männer eigentlich für ihre Sicherheit zuständig gewesen seien. Zeitgleich seien drei Polizeikommandanten umgebracht worden.

Sabina Berman und Laura Restrepo hoffen, dass die Droge zu einem ganz normalen Agrarprodukt wie Kaffee oder Bananen werden könne. Wenn sie legal sei, werde der Preis automatisch sinken. Sicherlich müsse mit der Legalisierung ein Erziehungsprogramm auf den Weg gebracht werden, der über den Umgang mit den Substanzen aufkläre. In Bezug auf den Tabakkonsum habe solch ein Modell ganz gut funktioniert. Außerdem könne dann auch eine Steuer auf die Drogen erhoben werden, mit denen sich die Behandlung der gesundheitlichen Schäden finanzieren ließe. Auch konservative Intellektuelle wie Mario Vargas Llosa setzten sich mittlerweile für die Entkriminalisierung der Drogen ein. Doch es gebe mächtige Mafiaorganisationen, die sich dem entgegen stellten und weiter an Drogenhandel, Kinderprostitution, Waffen- und Organhandel verdienen wollten.

Bücher und Filme:

Laura Restrepo: Die Insel der Verlorenenir.gif

Regie: Carlos Carrera, Drehbuch: Sabina Berman: Paradies der Mörderir.gif

Sabina Berman: Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchteir.gif

Alonso Salazar:  Pablo Escobar, el patron del mal

Irgendwann passiert alles von allein

Das Leben von Johannes, dem Ich-Erzähler, und seinen Kumpels Sam, Leo und Schenz findet im Wesentlichen an der Halfpipe statt, wo sie Skaten. Manchmal trinken sie Alkohol, kiffen oder spielen mit ihrer Playstation. Sie sind ungefähr 16 oder 17 Jahre alt und die sportlichen Herausforderungen des Skatens überfordern sie manchmal:

Mit dem linken Fuß schob er dreimal kräftig an und rollte auf einen kniehohen Betonblock zu, auf dessen Oberseite eine Metallstange eingefasst war. Doch anstatt, wie eigentlich geplant, kurz vor dem Block sein Brett mit einer schnellen Bewegung in der Luft quer zu stellen und auf der Stange entlang zu rutschen, passierte etwas anderes: Sam drehte sein Brett zu früh

Die Höhepunkte ihres Lebens bestehen aus mühsam zusammen gesparten Restaurant-Besuchen beim Italiener, dem Playboy, den sie als einziges Verlagserzeugnis einigermaßen regelmäßig erstehen und den Details aus dem Liebesleben von Schenz, der als einziger der vier eine feste Freundin hat, zum Leidwesen der drei anderen:

Die Vorstadt mit ihren weiten Wegen, den Reihenhäusern, den Vorgärten und den ganzen Untoten, die darin lebten, war wirklich unerträglich. Ich meine, in einem Film, nicht jetzt >Terminator< oder so was, sondern in einem normalen Film, passiert etwas, aber in der Vorstadt passierte überhaupt nichts. Und weil das so ist, fühlt sich ein guter Film manchmal mehr nach Leben an als die Realität…

Irgendwann wird Leo dabei erwischt, wie er einem Mitschüler auf dem Pausenhof Drogen verkauft. Er fliegt von der Schule und kann sich auch zu Hause nicht mehr blicken lassen. Seitdem hat er kein festes Dach über dem Kopf, schläft mal bei Freunden oder draußen unter freiem Himmel:

Und seitdem hatte er sich alle Attitüden eines echten Rebellen zugelegt. Seine Schritte waren breit und kräftig und behielten, auch wenn er schnell ging, etwas Würdevolles. Ich wusste nicht, wie er das machte, aber er sah einfach gut aus, wenn er ging

Die vier erreichen Gerüchte über ein leer stehendes Haus in der Nähe und sie beschließen, es sich einmal anzusehen. Es gelingt ihnen, durch den Garten hinein zu kommen. Dort finden sie zunächst ein paar hundert Euro, später noch mehrere tausend Euro. Sie investieren das Geld in Pizzen, Drogen und Alkohol, das sie mit alten Hundertmark-Scheinen bezahlen. Schließlich versucht Leo, das Geld als Startkapital für seine Karriere als Drogendealer zu verwenden, in den auch die anderen mit einsteigen sollen. Insgesamt gibt ihnen das Geld ein ganz neues Selbstvertrauen. Der Alkohol- und Drogenkonsum steigt und die Dinge eskalieren immer mehr, bis einer der Jungen tot ist, ein anderer in der Psychiatrie landet und ein weiterer verhaftet wird, als er dreizehnjährigen Drogen verkaufen will.

Philipp Mattheis macht die Perspektivlosigkeit, die Langeweile und den Realitätsverlust der Teenager in vielen Schritten nachvollziehbar. Irgendwann ‘passiert alles von allein’ und ist von den vieren selbst nicht mehr zu stoppen.

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Kettenreaktion

Mit Kettenreaktion lässt Sebastian Stammsen seine Leser zum zweiten Mal die Ermittlungen der Kriminaloberkommissare Markus Wegener und Nina Gerling aus der Perspektive von Markus Wegener miterleben. Nachdem sie es in Sebastian Stammsens Debüt Gegen jede Regelir.gif mit einem ermordeten Computerfreak zu tun hatten, ermitteln sie nun in seinem neuen Kriminalroman Kettenreaktion nach dem Tod eines Mannes, der in der Fernsehabteilung eines Krefelder Elektromarktes auf einem Fernsehbildschirm tot zusammengebrochen ist. Das Überwachungsvideo aus dem Elektromarkt zeigt Ungewöhnliches:

Was auch immer David Krusekamp zu Fall gebracht hatte, ich hatte noch nie einen Menschen gesehen, der sich so verhielt. Fahrige, unkoordinierte Bewegungen begleiteten seinen Sturz auf den Fernseher. Er wirkte mehr wie ein Crashtestdummy mit Gummigelenken als ein Mensch

Auch die Gerichtsmediziner finden zunächst keinen eindeutigen Grund für seinen Tod. Als sich herausstellt, dass der tote David Krusekamp Elektriker von Beruf war und häufiger in Kernkraftwerken gearbeitet hat, befürchten die Mediziner einen Zusammenhang. Bei der Befragung sieht der Leiter des Teams, in dem David Krusekamp gearbeitet hat, jedoch keinen Grund zur Sorge. Er vermutet viel mehr ein Eifersuchtsdrama, denn David Krusekamp habe bereits seit mehreren Jahren ein Verhältnis mit einer Frau gehabt, die im Kernkraftwerk arbeitet. Über Jahre habe das Verhältnis der beiden keinerlei Schwierigkeiten bereitet, aber letzte Woche sei ihr Mann dahinter gekommen und im Hotel aufgetaucht, ein muskulöser Typ.

Die Ermittler bekommen Gelegenheit, sich einen genauen Eindruck von den Sicherheitsbestimmungen in dem Kernkraftwerk zu machen, in dem David Krusekamp zuletzt gearbeitet hat. Ausführlich beschreibt der Autor den Aufenthalt samt Sicherheitsvorkehrungen, Strahlenmesswerten und Ängsten von Markus Wegener:

Zwar wusste ich nichts von den technischen Zusammenhängen in dieser Anlage, aber ich war trotzdem fasziniert. Jede einzelne Komponente war fein säuberlich mit einem Schild beschriftet und eindeutig zu identifizieren. Wir sahen Druckluftleitungen, Ölleitungen, Wasser- und Dampfleitungen. Beeindruckend war, dass ich trotz intensivster Suche auch nicht den kleinsten Krümel auf dem Boden entdeckte

Die Sicherheitskontrollen sind so streng, dass die beiden Polizisten keine Möglichkeit sehen, dass eine strahlenbelastete Person unbemerkt das Kraftwerk verlassen oder strahlende Partikel nach draußen geschmuggelt werden könnten. Markus Wegener verlässt das Kernkraftwerk dennoch irgendwie mit einem eher beruhigten Gefühl.

Als das Emittlerduo am nächsten Tag noch einmal in das Kernkraftwerk zurückzukehren versucht, erfahren sie, dass es besetzt worden ist und das Personal als Geiseln genommen worden ist. Alle Sicherheitsvorkehrungen, die das Kraftwerk gegen äußere Angriffe schützen sollen, wenden sich nun gegen die Retter und stellen eine Gefahr dar. Bei einem Treffen mit den Geiselnehmern, an dem auch Markus Wegener teilnimmt, werden sie von einem Mann begrüßt, der alle von seiner Unberechenbarkeit überzeugt:

‚Ist das nicht wunderbar?’, fragte der Mann. Er wirkte aufgekratzt, euphorisch, aber zeigte sonst keine Anzeichen für Drogenkonsum. Wahrscheinlich sprach er gar nicht mit uns, denn er drehte sich im Kreis und wiederholte: ‘Ist das nicht wunderbar?‘

Als die Geiselnehmer sich versiert im Umgang mit der Technik des Kernkraftwerks zeigen und neben einer hohen Geldsumme verlangen, dass der Ausstieg aus der Kernenergie per Gesetz wieder zurück genommen wird, ist klar, dass die Geiselnehmer zumindest zum Teil schon einmal in einem Kernkraftwerk gearbeitet haben müssen und keine Umweltaktivisten sein können.

Kettenreaktion ist mehr als ein Kriminalroman. Sebastian Stammsen, der Psychologie studiert und früher im Umweltministerium Baden-Württemberg in der Abteilung Kernenergieaufsicht gearbeitet hat, bildet ausführlich und fachkundig die Diskussion über Vor- und Nachteile der Kernenergie nach Fukushima ab. Das Buch zeigt, wo aus technischer Sicht Risiken liegen können, räumt mit Vorurteilen auf und richtet den Fokus auf eine Gefahrenquelle, die in vielen Gesprächen gar nicht vorkommt: den Menschen.

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Höllenritt Wahlkampf

Von 1990 bis 2012 war Frank Stauss, Inhaber der Werbeagentur ‘Butter’, mit seinem Team meist auf Seiten der SPD an allen großen Wahlkämpfen beteiligt, zumindest in Deutschland. Gerhard Schröder hat er gegen Angela Merkel unterstützt, Hannelore Kraft gegen Norbert Röttgen oder Peer Steinbrück gegen Jürgen Rüttgers und mit ihnen viele Siege und auch manche Niederlage gefeiert beziehungsweise einstecken müssen.

Pläne und Strategien

Mit ‘Höllenritt Wahlkampf – Ein Insider-Bericht’ veröffentlicht Frank Stauss eine Art Tagebuch mit Gedanken, Plänen, Strategien und Notizen zur damals aktuellen Gefühlslage, das bezeichnenderweise in die zwei großen Kapitel ‘Er redet frei – Gott steh uns bei!’ und ‘Live-Report aus dem Maschinenraum der Macht’ eingeteilt ist. Erfahren lässt sich auf knapp zweihundert Seiten, wie der Politikwissenschaftler aus Heidelberg nach erfolgreicher Teilnahme am Wahlkampf Bill Clinton gegen George Bush in den USA nach Düsseldorf kam und zunächst zum Wahlkämpfer der SPD nach der Wiedervereinigung wurde.

Wahlkämpfer nach der Wiedervereinigung

Unterhaltsam und mit zum Teil schwarzem Humor erklärt er, wie wichtig der Kandidat für einen erfolgreichen Wahlkampf ist, wie Strategien erarbeitet werden, welche Rolle mittlerweile das Internet dabei spielt oder eben auch nicht und skizziert mit manchmal erstaunlich knappen Strichen die politische und soziale Situation in den betreffenden Gegenden zur Zeit des Wahlkampfs. All das vermittelt nicht nur einen umfassenden Eindruck davon, wie, ob und zu welchem Preis sich Erfolg gestalten lässt, sondern macht das Buch auch zu einem spannenden Zeitdokument.

Klug, lustig und nachdenklich

“Endlich ein ehrliches Buch über Politik. Klug, lustig, nachdenklich, ausgezeichnet geschrieben – und das von einem Werber. Lesen!”, lobt der Journalist und TV-Moderator Hajo Schumacher und auch Jost Kaiser, Autor von “Als Helmut Schmidt einmal…”, zeigt sich begeistert: “Frank Stauss hat einen harten Sprachsound , ohne zynisch zu sein. Ein grandioses Buch”.

Die Verschwundenen

In Die Verschwundenen von Marko Kilpi halten mehrere brutale Verbrechen die Ermittler um Polizeihauptkommissar Olli Repo in Atem. Beispielsweise verschwinden immer wieder junge Mädchen aus behüteten Familienverhältnissen spurlos und ohne erkennbaren Grund. Eine Katastrophe für die Familien und belastend die Ermittler, denen es über Jahre nicht gelingt, eine Spur zu finden und die Verzweiflung der Familien durch irgendein Ermittlungsergebnis zu lindern.

Als allerdings auch ein als psychisch labil geltender Star der aktuellen Big Brother-Staffel spurlos verschwindet, glaubt die Polizei erst einmal nicht unbedingt an ein Verbrechen, sondern befürchtet eine makabere PR-Aktion. Doch dann wird ein weiterer ‘Zwei-Euro-Promi’ in einem Nachtclub brutal totgeprügelt, der bekannt dafür ist, etwas ‘blödsinniges’ oder ‘superblödsinniges’ anzustellen. Die Ermittler beginnen Schlimmes zu befürchten:

Es geht darum, wie gut man es versteht, den Fehler des jungen Mannes zu vermarkten. Welchen Nutzen kann man aus seinen SMS ziehen? Wie kann man aus einem Gescheiterten ein interessantes, gut verkäufliches Produkt machen? Wie viel Mist ist er zu bauen bereit? Was ist ausreichend, wenn nichts genügt? Die Zeit ist knapp. Der erste Anstoß hält nicht lange vor, die Maschinerie braucht unverzüglich frisches Blut, wenn sie nicht zum Stillstand kommen soll

Hängen diese Fälle womöglich sogar mit denen der verschwundenen jungen Mädchen zusammen? Marko Kilpi skizziert detailliert den anstrengenden und nervenaufreibenden Arbeitsalltag eines Polizisten, der in sekundenbruchteilen die richtige Entscheidung fällen und dabei immer souverän agieren muss. Beeinträchtigungen der Konzentrationsfähigkeit etwa durch Alter oder eine belastende Trennung von Frau und Kind können lebensgefährlich sein. Außerdem beschreibt der Autor, wie schwierig es ist, den richtigen Nachwuchs für die Polizeiarbeit zu finden und zu entscheiden, wann die Notbremse gezogen werden muss, falls sich ein Anwärter etwa als zu aggressiv erweist. Auch Tätern und Opfern widmet Marko Kilpi ausführliche Analysen und setzt die Geschehnissein einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Zusammenhang, was Die Verschwundenen nicht nur zu einem packenden sozialkritischen, sondern auch einem regelrecht philosophischen Kriminalroman macht.

Mit Die Verschwundenen ist Marko Kilpi als zweiter Krimi-Autor überhaupt für den renommiertesten finnischen Literaturpreis Finlandia nominiert gewesen. Das Finnland-Magazin beschreibt den Krimi als “Packend, tiefsinnig und unglaublich aktuell”, für den Stadtspiegel Hertenist er eine “erstklassige, schlüssige und spannende Bullenoper”. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Crash – in falsche Leben

Als der Protagonist in Crash – Ins falsche Leben von Martyn Bedford an diesem Morgen aufwacht, weiß er noch, dass er wohl irgendwie schlecht geträumt haben muss und fühlt sich körperlich unwohl:

Er ballte die Faust und öffnete sie wieder. Jetzt spürte er seine Hand wieder, aber der Arm fühlte sich immer noch schwer an, überhaupt waren alle seine Glieder und Gelenke bleischwer, und er hatte einen ekligen Geschmack im Mund. Wäre ja mal wieder typisch, wenn er sich gleich am ersten Wochenende der Weihnachtsferien etwas eingefangen hätte. Aber er fühlte sich nicht krank. Er fühlte sich … ach, keine Ahnung. Irgendwie neben der Spur

Daran, wie er nach Hause und ins Bett gekommen ist, erinnert er sich überhaupt nicht mehr. Auch das Zimmer, das er erblickt, als er die Augen aufschlägt, ist ihm völlig fremd. Als eine Frauenstimme zum wiederholten Male ‘Philip’ ruft und dass er endlich aufstehen soll, ist er sicher, dass er bei irgendeinem Freund übernachtet haben muss, den er eigentlich kaum kennt. Aber er ist ganz allein in dem fremden Zimmer und die Rufe der Frau werden immer lauter.

Auch auf seinem Weg durch das fremde Haus in die Richtung, aus der die Rufe kommen, begegnet er keinem anderen Jungen. Er torkelt die ganze Zeit wie ein Betrunkener und prallt auch wieder gegen den Türrahmen, als er die Küche betreten will. Eine weibliche Stimme kommentiert:

>Doktor Frankensteins Geschöpf …<“, die Stimme klang wie die Sprecherin in einer Fernsehdokumentation, >hatte Schwierigkeiten bei der Ausführung der einfachsten motorischen Abläufe, wie zum Beispiel geradeaus durch eine Tür zu gehen<

Alex ist es peinlich, dass er plötzlich in T-Shirt und Boxershorts vor dem etwa siebzehnjährigen Mädchen in schwarzen Gothic-Klamotten steht. Eine Antwort fällt ihm auch nicht ein. Als die fremde Frau, die sich außer dem Mädchen in der Küche aufhält, ihn begrüßt, als ob sie ihn kennen würde und nur noch auf ihn gewartet hätte, kann er sie nur wortlos anstarren.

Doch es hört und hört nicht auf. Alex sieht nicht mehr aus, wie er eigentlich aussieht, lebt in einer Familie, die er nicht kennt und muss eine Schule besuchen, die er noch nie betreten hat und wo ihm niemand bekannt vorkommt. Außerdem kann er mit niemandem über sein Problem sprechen. Immer, wenn er es zaghaft versucht, halten es die anderen für einen Scherz oder reagieren verärgert. Erst als er im Internet in das Suchfenster ‘Ich bin im Körper eines anderen aufgewacht‘ eingibt, findet er Foren, in denen Menschen Erfahrungen austauschen, die ihm bekannt vorkommen. Aber auch mit der Zeit kommt Alex im Körper von Philip einfach nicht zurecht und benimmt sich immer seltsamer.

Der Autor Martyn Bedford hat jahrelang als Journalist gearbeitet, bereits mehrere Kurzgeschichten sowie Romane für Erwachsene veröffentlicht und unterrichtet jetzt am Leeds Trinity College Englisch und kreatives Schreiben. The Times lobt CRASH – Ins falsche Lebenals einen ‘fesselnden Thriller’. Tatsächlich bleibt das Buch sowohl rätselhaft, als auch spannend bis zum Schluss und hat mich ziemlich sprachlos zurück gelassen.

Endlich sind sie tot

Der Psychologin Daniela Ellinger bietet sich in Endlich sind sie tot! von Sebastian Stammsen ein fast unerträgliches Bild, als sie von der Polizei an den Tatort gerufen wird. Wie in einem Schlachthaus hängen drei Mitglieder der Familie Brose furchtbar zugerichtet kopfüber von der Decke. Daniela Ellinger arbeitet nur manchmal als Beraterin mit der Polizei zusammen und es gelingt ihr nur mit Mühe, sich zu beherrschen und professionell zu bleiben.

Der Täter scheint schon gefasst: Der sechzehnjährige jüngste Sohn der Familie Brose ist mit einem blutverschmierten Hammer und apathischem Blick neben den Leichen gefunden worden. Kriminalkommissar Oliver Busch, der den Fall gemeinsam mit Daniela Ellinger bearbeiten soll, hofft auf ein schnelles Ende der Ermittlungen:

Schön. Wenn das so einfach war, dann würden wir diesen Marvin Brose befragen, ein Geständnis aus ihm herauspressen und damit wäre die Sache erledigt

Er ist von der Zusammenarbeit mit der Psychologin wenig begeistert. Einmal abgesehen davon, dass er sich an ihren langen blonden Haaren und dem knappen rosafarbenen Kostüm stört, fürchtet er, dass Daniela Ellinger den Täter womöglich als schuldunfähig einstufen könnte und damit verhindert, dass er die aus seiner Sicht gerechte Strafe bekommt.

Doch es stellt sich heraus, dass auch die Nachbarn mit den Broses aneinander geraten sind und von ihnen schikaniert und bedroht worden sind. Als sie erfahren, dass die Familie nicht mehr zurück kommen wird, haben manche vor Erleichterung Tränen in den Augen. Überhaupt scheint jeder mit den Broses unangenehme Erfahrungen gemacht zu haben, insbesondere auch mit dem sechzehjährigen Marvin. Stalking, Erpressung, gezielte Einschüchterungen und Drogenhandel haben ihm bereits viele Beschwerden bei der Schulleitung eingebracht. Dennoch fällt es Daniela Ellinger schwer sich vorzustellen, dass ein sechzehnjähriger allein eine solch grausame Tat begangen haben kann.

Bei einer ersten Befragung liefert Marvin Anhaltspunkte dafür, dass er vielleicht tatsächlich einen Mittäter gehabt hat. “Ich war es. Ich bin unschuldig”, gibt er unter Tränen zu Protokoll. Oder handelt es sich eher um einen Fall von Schizophrenie oder multipler Persönlichkeit?