Zwischen zwei Scheiben Glück

In Zwischen zwei Scheiben Glück von Irene Dische hat Peters Vater Laszlo eine bemerkenswert lebensfrohe und positive Herangehensweise an alle Dinge. Als ihm seine junge Geliebte Dalia unter Tränen gesteht, sie sei schwanger, stürmt er sofort nach Hause und zündet mehrere Feuerwerksknaller, die er sich für einen besonderen Moment zurück gelegt hatte. Kein Wunder, dass auch das Hochzeitsfest ein ‘fröhliches, ausgelassenes Fest’ wird, bei dem sich sogar Laszlos Vater gut amüsiert.

Schon häufig hat sich der Vater darüber beschwert, dass ihm sein Sohn fremd sei. Laszlo sei ein Heißsporn und habe kein Talent zur Mäßigung. Aber er erhöht den monatlichen Unterhalt, damit Laszlo, während er in Budapest das Jurastudium abschließt, seine Familie versorgen kann. Doch das Familienglück währt nicht lang. Ausgerechnet in dem Auto, dass Laszlos Vater ihm aus Freude über den neuen gut bezahlten Posten im diplomatischen Dienst schenkt, kommt Dalia durch einen Unfall ums Leben. Laszlo selbst überlebt mit ein paar Schrammen und trauert eine Weile sehr um seine Frau:

Dalias Tod machte Laszlo Nagel für eine Weile sehr traurig. Aber dann schlug sein Naturell wieder durch. Er konnte es nicht ändern, er liebte das Lebendigsein. In Budapest galt er schon bald als lustiger Witwer

Laszlo verbringt viel Zeit mit seinem Sohn Peter, dem er erzählt, er habe ihn in einem Spezialgeschäft für rothaarige Kinder gekauft und dass er einen Vater habe, der ein Glückspilz sei. Sie erkunden die Umgebung gemeinsam auf eine ihnen eigene Weise und Peter liebt seinen Vater abgöttisch. Eines Abends flüstert Laszlo seinem Sohn vor dem Einschlafen zu:

Auf jeden Fall weiß ich, dass du deinen eigenen Kopf haben wirst, wenn du groß bist. Du wirst vor nichts Angst haben. Nicht einmal vor dem Sterben. Aber vor allem wirst du gern leben. O ja, du wirst das Leben genießen

Laszlo und sein Sohn erkunden die Stadt ausgiebig. Sie gehen gemeinsam zu vielen Veranstaltungen, Festen oder auch ins Kino. Schon bald werden sie mit den Auswirkungen der Nazi-Herrschaft konfrontiert und entwickeln ihren eigenen ganz speziellen Umgang mit den Gegebenheiten. Zwischen zwei Scheiben Glück, ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, ist ein sehr humorvolles und fürsorgliches Buch, dem es gelingt, seine Leser mit der Lebensfreude der Charaktere anzustecken.

Long Reach

In Long Reach von Peter Cocks hat tatsächlich vieles Ähnlichkeit mit James Bond. Seitdem der siebzehnjährige Protagonist Eddie Savage heißt und für den britischen MI5 arbeitet, hat er einen ganz modernen Computer, mehrere schicke und teure Handys, Schuhe, in deren Absätze USB-Sticks und Chipkarten passen sowie eine Uhr, die bis zu acht Stunden lang Gespräche aufzeichnen kann. Außerdem weiß er, wie er Gegner mit Alltagsgegenständen wie einem Kugelschreiber schwer verletzen oder heimlich Spyware auf Computern installieren kann. Für seine schicken Klamotten ist eine unglaublich gut aussehende Agentin verantwortlich, die er aber doch eher als belastend empfindet:

Sie warf mir noch andere Hemden zu: Paul Smith, Ralph Lauren, ein paar Pullis aus weicher Wolle, dann Bootsschuhe, Nikes und Schnürschuhe aus Wildleder. Ich versuchte mich an anderen Kombinationen und langsam war es mir nicht mehr ganz so peinlich, halb nackt vor dieser heißen Frau rumzustehen

Seit sein großer Bruder gestorben ist, hat Eddie ohnehin das Gefühl, dass seine Kindheit ein jähes Ende gefunden hat. Seines Mutter weint ständig und er selbst fühlt sich schutzlos und ohne Halt. Auch der Bruder hat für den MI5 gearbeitet. Zu Letzt hat er allerdings extrem gestresst gewirkt. Jetzt ist der MI5 an Eddie heran getreten. Er soll der Tochter eines Mafia-Bossis so nahe wie möglich kommen. Ein Mitschüler mit Sprachfehler versichert ihm unumwunden, dass er dem richtigen Mädchen auf der Spur ist:

Ihr Alter  soll so eine Art Gangsterboss sein. Chwerer Raub, Rauchgift, Fälchung… das volle Programm

Er wird von mehreren Leuten in der Schule gewarnt, aber Eddie bleibt tapfer. Und dann läuft es richtig gut zwischen den beiden. Als er bald auch ihre Eltern kennen lernt, fängt er an, sich immer tiefer in die Angelegenheiten ihrer Familie zu verstricken und erfährt nach und nach, was wirklich an den Gerüchten dran ist. Dabei stößt er widererwartend auch auf Spuren seines großen Bruders. Long Reach von Peter Cocks ist ein sehr vielseitiges und spannendes Buch und nicht nur für Teenager lesenswert. Mir hat es gefallen.

Black Rabbit Summer

Die drei Wochen seit Beginn der Ferien hat Pete Boland in Black Rabbit Summer von Kevin Brooks ausschließlich mit Nichtstun im Haus seiner Eltern verbracht. Irgendwie kann er sich zu nichts aufraffen und wundert sich darüber selbst ein bisschen:

Ich hatte keine Ahnung, woher meine Lethargie kam – und ich glaube, es interessierte mich auch nicht besonders -, doch in den ungefähr drei Wochen seit Schulende hatte ich offensichtlich die Gewohnheit angenommen, gar nichts zu tun, und es fiel mir schwer, von dieser Gewohnheit wieder loszukommen. Spätmorgens aufstehen, stundenlang zu Hause rumhängen, ein Weilchen in der Sonne sitzen … vielleicht ein Buch lesen, vielleicht auch nicht. Was spielte es für eine Rolle? So, wie ich es sah, würden die Tage und Nächte vergehen, egal ob ich irgendetwas tat oder nicht. Und genauso war es. Die Vormittage vergingen, die Nachmittage vergingen, die Abende wurden nach Sonnenuntergang zu Nächten … und ehe ich mich versah, lag ich wieder auf meinem Bett, starrte die Decke an und wunderte mich, wo der Tag geblieben war

Als er an einem Tag wieder auf seinem Bett vor sich hin starrt, klingelt das Telefon. Er hört, dass seine Mutter mit Nicole, einer alten Freundin, spricht und ihn schließlich zum Telefon ruft. Einen kurzen Moment überlegt er, den Ruf seiner Mutter einfach zu ignorieren, hält es dann aber für das kleinere Übel, doch zum Telefon zu gehen. Nicole lädt ihn zu einem letzten Treffen mit der alten Clique ein, die sich bereits seit einiger Zeit aus den Augen verloren hat. Erst soll es ein Treffen in einem früher einmal von ihnen selbst gebauten Unterschlupf im Gestrüpp geben, dann wollen alle auf die Kirmes in der Nähe gehen. Der Anruf löst bei Pete viele Erinnerungen aus:

In der Nacht konnte ich lange nicht einschlafen. Als ich im Bett lag und in die vom Mond erhellte Dunkelheit starrte, war mein Kopf derart voll mit Gedanken, dass ich sie geradezu aus meinem Schädel sickern spürte. Verschwitze Gedanken, klebrig und salzig, sie quollen mir aus Ohren, Mund und Haut

Er erinnert sich an Nicole und die ersten Annäherungsversuche. Er denkt auch an Raymond, den Sonderling, dessen zu Hause er von seinem Zimmer aus sehen kann. Zu ihm hat er nach wie vor immer wieder Kontakt, aber Raymond ist eigentlich überwiegend mit Black Rabbit, seinem schwarzen Kaninchen, beschäftigt.

Der gemeinsame Abend fängt normal an, sie trinken, kiffen und unterhalten sich ein bisschen zu fünft. Schließlich gehen sie getrennt auf die Kirmes. Auf der Suche nach Raymond begegnet Pete dort Stella Ross, die auch in seine Klasse gegangen ist und jetzt durch Auftritte in Werbe- und Musikvideos sowie erotische Fotos berühmt ist. Ein Kamerateam ist bei ihr, Bodyguards, ein regelrechtes Gefolge und Raymond. Pete mag Stella Ross nicht und ist sich sicher, dass sie Raymond nur benutzt, als sie ihn vor laufenden Kameras küsst.

Am nächsten Tag kommt in den Fernsehnachrichten die Meldung, dass Stalla Ross vermisst wird und die Polizei nach ihr sucht. Petes Vater ist Polizist und würde normalerweise in dem Fall ermitteln, ist aber schon nach kurzer Zeit suspendiert worden. Pete muss bei der Polizei aussagen. Er und die Anderen werden verdächtigt, mit dem Fall etwas zu tun zu haben. Zumal auch Raymond verschwunden bleibt.

Bereits der erste Roman von Kevin Brooks war ein überwältigender Erfolg. Mittlerweile ist er mehrfach mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet worden und bei seinen jungen Lesern in Deutschland so beliebt, dass ihm kürzlich der Lese-Hammer für iBoy verliehen worden ist. Black Rabbit Summer ist nicht nur ein psychologisch interessanter und spannender Thriller, der zeigt, wie schnell eine Auseinandersetzung in rohe Gewalt unschlagen kann. Spannend und mit viel sprachlichem Geschick zeigt Kevin Brooks seinen Lesern einige wohlgehütete Geheimnisse, Erpressungen, Psychoterror, fragwürdige mediale Berichterstattung, Drogenmissbrauch, Selbstmord. Zentral ist auch die schwierige Situation, in die Pete als Sohn eines Polizisten gerät, der neben den offiziellen Befragungen den Behörden immer wieder Tipps geben soll, sich damit überfordert fühlt und in Gewissenskonflikte gerät.

Tödliche Fortsetzung

Martin Kanther lebt allein in einer der besten Wohngegenden Frankfurts und ist Alkoholiker. Das führt in Tödliche Fortsetzung von Marc-Oliver Bischoff immer wieder zu Konflikten, auch mit den Nachbarn. Manchmal wird er mitten in der Nacht von der Polizei aufgegriffen und muss nach Hause gebracht werden. Er selbst hat daran für gewöhnlich keine Erinnerung:

Seine Nachbarin stand mit dem Baby auf dem Arm im Treppenhaus und hielt ihm einen Briefumschlag unter die Nase. >Herr Kanther, ich möchte nicht länger Ihren Ersatzschlüssel aufbewahren.< Kanther sah sie verdutzt an. >Wir sind aufgewacht, als die Polizei mit Ihnen im Schlepptau mitten in der Nacht geklingelt hat, weil Sie nicht in Ihre Wohnung reinkamen. Mein Mann muss morgens früh raus und der Kleine hat eine Stunde lang geschrien.< Sie stand unbeweglich wie eine Schaufensterpuppe vor ihm, den Umschlag in der ausgestreckten Hand. Kanther hatte die Befürchtung, dass sie gleich in Tränen ausbrach. Das fehlte ihm noch. >Tut mir Leid, kommt nicht wieder vor<, erwiderte er und schnappte den Umschlag

Zu Geld ist Martin Kanther vor einigen Jahren gekommen, als sein Kriminalroman-Debut Drachentöter die Bestseller-Listen erobert hat. Das Buch ist ein Skandal gewesen. Es handelt von Morden an Prostituierten, deren Beschreibung so realistisch ist, dass Ermittler Aufmerksam geworden sind und Parallelen zu Verbrechen erkannt haben, die kurz vor Erscheinen des Buchs in Frankfurt tatsächlich verübt worden sind. Martin Kanther wird als Verdächtiger verhaftet. Er gelangt in die Schlagzeilen und einige Medien verreissen Drachentöter. Letztlich gelingt es den Behörden aber nicht, Martin Kanther die Taten nachzuweisen. Ein Journalist erinnert sich:

Entweder haben sie ihm nicht die richtigen Fragen gestellt oder er hatte ein wasserdichtes Alibi, sonst hätten sei ihn nicht wieder frei gelassen. Aber die Sache bescherte ihm eine ungeheure Popularität

Durch den Skandal verdient Martin Kanther so viel Geld, dass er sich eine Wohnung in einer teuren Gegend leisten und seinen ausschweifenden Lebenswandel mit viel Alkohol finanzieren kann. Ein unerwarteter Glücksfall für ihn, Kind eines zu Tode gekommenen Bergmanns, dessen Mutter sich nach dem Unfall das Leben nahm. Die Erinnerung macht ihm bis in die Gegenwart zu schaffen. Und dann meldet sich ein alter Bekannter aus der Vergangenheit und versucht, ihn wieder in krumme Geschäfte hinein zu ziehen.

Tödliche Fortsetzung enthält einige sehr brutale Szenen beispielsweise beschreibt Marc-Oliver Bischoff den Mord an einer Prostituierten aus der Sicht ihrer sechsjährigen Tochter. Davon abgesehen ist das Buch spannend und enthält interessante Einblicke in das soziale Gefüge des Rotlichtmilieus.

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Der kleine König von Bombay

Zu Anfang des Romans Der kleine König von Bombay von Chandrahas Choudhoury beschließt Arzee, weniger rücksichtsvoll, schüchtern oder dumm zu sein und alles offensiver anzugehen:

Früher war er zu berechenbar gewesen, zu unterwürfig, eine leichte Beute. Jeder Tag auf dieser Welt war ein Kampf gegen die Macht und den Willen zahlloser Kräfte, warum also sollte er nicht nach Belieben das Gleis, die Richtung wechseln? Ein Mann konnte nicht einfach so sein, wie er war, wie er gern wollte – diese Welt war kein Ort für Gefühle! Vielmehr musst er seine Lage erfassen und sich dann mit ihr auseinandersetzen, sich behaupten – auch Pflanzen konnten schließlich nur wachsen, wenn sie sich der Sonne zuneigten

Arzee ist seit seiner Jugend mit Leidenschaft Filmvorführer im Noor, einem jahrzehntealten Kino in Bombay, in dem ausschließlich alte Bollywood-Filme gezeigt werden. Jetzt hat er erfahren, dass der leitende Filmvorführer des Noor bald in Rente gehen wird und rechnet damit, dass er dann dessen Posten einnehmen kann. Er hofft sich am Ziel fast all seiner Wünsche und Träume. Das Noor ist für Arzee nicht einfach nur ein Arbeitsplatz, sondern ein zu Hause, wo er sich wohl fühlt und dessen Atmosphäre er bestens kennt:

Auch nach all den Jahren dauerte es einen Moment, bis Arzee sich an die immense Noor’sche Düsternis, den ganz eigenen Noor’schen Geruch gewöhnt hatte. Das Noor war eine dunkle Höhle, die eine zweite in sich barg: Anders als in anderen Kinos ließ man die Welt hier nicht in dem Moment hinter sich, wo man den Zuschauerraum betrat, sondern bereits wenn man den Fuß über die Schwelle des Kinos setzte. Die Luft drinnen war drückend und abgestanden, als wäre sie an einem uranfänglichen Abend eingelassen und nie wieder herausgelassen worden, und das muffige Halbdunkel in Foyer und Korridoren bereitete die Gäste auf die stickige Finsternis in dem großen Saal vor, aus dem jetzt, dumpf und verzerrt, die Klänge des dramatischen Höhepunkts von Saathi drangen

Arzee hofft, dass seine Beförderung ihn außerdem endlich in die Position versetzen wird, zu heiraten. Auch in der Liebe hat es Arzee bis jetzt nicht leicht gehabt. Seiner Meinung nach liegt es daran, dass er unterdurchschnittlich groß und damit eigentlich ein Zwerg ist. Vielversprechend ist, dass seine Mutter unermüdlich nach einer passenden Frau für ihn sucht. Doch sie hat ihn mit genauso viel Elan sein Leben lang  körperlich groß und stark machen wollen und Arzee deswegen bleibt skeptisch.

Und tatsächlich ist er wieder einmal noch nicht am Ziel. Deepak vom Syndikat wird richtig ungemütlich. Er stellt Arzee nach und will dessen Spielschulden eintreiben. Das Syndikat zwingt Arzee schließlich demütigende, aber immerhin legale, Arbeiten auf. Außerdem sieht es zwischenzeitlich so aus, als ob das Noor schließen müsste und er seinen Arbeitsplatz verliert. Doch dann begegnet er Monique, der Starfriseurin. Sie verlieben sich ineinander und alles ist nicht mehr so bedrückend. Die Romanze dauert mehrere Wochen, bis plötzlich Moniques Vater auftaucht.

Chandrahas Choudhury zeichnet in Der kleine König von Bombay ein mitreißendes Bild vom alltäglichen Überlebenskampf in der Millionenmetropole Bombay, von gesellschaftlichen und religiösen Konflikten, Geldnot, Einsamkeit und Hoffnung.

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Die Unperfekten

In Die Unperfekten von Tom Rachman liest Ornella de Monterecchi jeden Tag in der Zeitung. Sie ist die Witwe eines italienischen Diplomaten und die englischsprachige internationale Zeitung gibt ihr Halt, seitdem ihr Mann 1976 nach Riad versetzt worden ist. Jetzt lebt sie wieder in Rom und hat immer noch ein Abonnement der Zeitung. Aber Ornella de Monterecchi liest niemals die aktuelle Ausgabe, sie bedient sich aus ihrem riesigen Zeitungsarchiv:

Aus Langeweile hatte sie angefangen, die Zeitung zu lesen, eines der wenigen internationalen Presseerzeugnisse, die in den späten Siebzigern im saudischen Königreich zugänglich waren. Und weil sie nie gelernt hatte, wie man eine Zeitung richtig liest, las sie alles der Reihe nach wie bei einem Buch, Spalte für Spalte, von links nach rechts, eine Seite nach der anderen. Sie las jeden Artikel und fing keinen neuen an, bevor sie den anderen durch hatte, wodurch sie für jede Ausgabe mehrere Tage brauchte. Anfangs fand sie vieles verwirrend

Als die Verleger die Zeitung einstellen, da sie über viele Jahre Verluste gebracht hat, will Ornella de Monterecchi darauf dringen, dass sie weiter erscheint. Doch der Portier kann ihr nur noch die leer geräumten Redaktionsräume zeigen.

Ornella de Monterecchi ist eine von elf Personen aus dem Umfeld der in Rom redaktionell betreuten US-amerikanischen Zeitung, deren Niedergang Tom Rachman in Die Unperfekten beschreibt. Es sind aufmerksame und sehr detailreiche Porträts, die einen Augenblick in dem Leben der Personen beschreiben, der fast immer eine entscheidend fatale Wende bringt. Dabei ist die Erzählpersepektive niemals aburteilend, sondern beleuchtet die verschiedenen Facetten der Charaktere meist mit viel Verständnis.

Beispielsweise beschreibt Tom Rachman den Lebemann und Frauenheld Lloyd Burko, der die Zeitung seit ihren Anfängen kurz nach dem II. Weltkrieg mit Artikeln aus Paris versorgt. Jetzt hat seine vierte Frau einen Liebhaber, seine Kinder wollen keinen Kontakt mehr zu ihm und er ist pleite, denn er schafft es nicht mehr, Artikel an die Zeitung zu verkaufen. Arthur Gopal hingegen ist der Sohn eines berühmten Journalisten, der selbst nie wirklich über die Betreuung der Rubrik Rätsel-Brezel hinaus gekommen ist. Erst der Tod seiner Tochter könnte beruflich eine Wende einleiten. Beruflich sehr erfolgreich ist andererseits der Nachrichtenchef der Zeitung. Seit ein paar Jahren hat er auch eine glückliche Beziehung, aber dann erfährt die ganze Redaktion von dem einmaligen Seitensprung seiner Lebensgefährtin inklusive Nacktfoto per Email.

Am Ende der insgesamt elf Porträts gibt es auch einen Text, der die Geschichte der Zeitung von ihren Anfängen bis in die Gegenwart beschreibt. Dadurch wird klar, dass nicht die Stärken und Schwächen der unperfekten Redaktionsmitglieder den Bankrott der Zeitung hervor rufen, sondern dass die wirtschaftliche Lage der Zeitung bereits vor rund zwanzig Jahren schwierig war:

Anfang der neunziger Jahre begann der Erfolg der Zeitung unter Milton Berber abzuflauen – wie die gesamte Branche hatte auch die Zeitung mit einem Rückgang der Leserschaft zu kämpfen. Erst hatte das Fernsehen den Zeitungen jahrelang das Wasser abgegraben, dann hatten ihnen die Nachrichtenkanäle, die vierundzwanzig Stunden am Tag sendeten, den nächsten Schlag versetzt. Morgenblätter, die am Nachmittag davor gemacht wurden, waren nicht mehr aktuell genug

Mit diesem Erklärungen versucht der Vertreter der Verlegerfamilie die entsetzten Redaktionsmitglieder zu beschwichtigen. Er selbst hat die Zeitung noch nie gelesen und wollte beruflich eigentlich immer etwas ganz anderes machen.

Das Rosinenbrötchen

Das Rosinenbrötchen oder: Es ist alles nur eine Phase von Maximilian Buddenbohm besteht aus mehreren kleinen Geschichten, die mit viel Humor von dem Familienalltag eines Vaters, seiner Herzdame sowie SohnI und SohnII erzählen. Ganz zu Anfang erklärt der Autor:

Natürlich macht man als Mann heutzutage bei allem mit, was die Kinder betrifft. Selbst wenn man berücksichtigt, dass es immer noch in den meisten Fällen die Mütter sind, die mehr Zeit mit den Kindern verbringen, sind die Männer doch längst keine ahnungslosen Ernährer mehr, die ratlos gucken, wenn ihnen abends zu Hause überraschend ein Kind über den Weg läuft. Nein, der Mann ist heute mit der größten Selbstverständlichkeit familiär engagiert und auch kompetent

Man ist als Leser dabei, wenn der Sohn am Morgen um kurz nach fünf Uhr seinen schlafenden Eltern die Geschichte von dem Helden ‘Hallamati’ vorträgt, der seien Mantel geschreddert habe, begleitet von einem Kinderakkordeon. Im Anschluss an die Darbietung will das Kind wissen, was die Geschichte eigentlich zu bedeuten habe:

Das Kind guckte mich fragend an, ich riss mich zusammen. Es ging schließlich um seine Bildung, hier war Einsatz gefordert. Der Heilige Martin also, im Prinzip eine immerhin einfache Geschichte von Mitleid. Er hatte einen Mantel, er hatte ein Schwert, der andere fror, Mantel geteilt. Geteilt, nicht geschreddert, übrigens. Voll nett. Ich sank zurück in die Kissen und machte die Augen zu. SohnI sagte: “Was?”

Als Vater hat man eben alle Hände voll zu tun. Man muss den Sohn in Modefragen und in Liebesangelegenheiten beraten, ihn pädagogisch wertvoll mit Lebensweisheiten versorgen und zum Babyschwimmen begleiten. Leider fühlt man sich dabei nicht immer so ganz Ernst genommen wie beispielsweise von der Kursleiterin, die sagt:

Ihr könnt mir gerne heute schon einmal sagen, welche Kurse ihr nächstes Jahr besuchen wollt. Ich schreib mir das auch alles auf. Und dann bespreche ich später mit euren Frauen, was wir wirklich machen

Aber als guter Vater bleibt man natürlich cool und steckt solche Missverständnisse locker weg. Das Rosinenbrötchen oder: Es ist alles nur eine Phase von Maximilian Buddenbohm ist ein sehr unterhaltsames Buch, das viel Spaß macht und sehr zu empfehlen ist.

Höchstgebot

Bei einer Auktion geht in Höchstgebot von Thomas Hoeps und Jac. Toes unerwartet eine Version des Bildes Scheherezade von René Magritte für die Rekordsumme von 43 Millionen Euro an einen anonymen Bieter. Der Kunstexperte Robert Patati, ein Bekannter der Eigentümerfamilie, hat das Gemälde begutachtet und weiß, dass es wertvoll ist:

Wegen seiner herausragenden Qualität, weil nur drei aller anderen Scheherezade-Versionen in Öl gemalt waren und weil es das war, was die Auktionatoren mit leuchtenden Augen >jungfräulich< nannten – ein Bild, das niemals wirklich auf dem Markt zu haben gewesen war

Wegen der Finanzmarkt-Krise rechnet Robert Patati mit einem hohen Verkaufspreis, denn seiner Erfahrung nach flüchten sich viele den klassischen Anlagen misstrauende Investoren in Kunst als Geldanlage. Dieser Rekordverkaufspreis übersteigt jedoch auch die kühnsten Erwartungen und auf der Auktion wird Geschichte geschrieben, denn das Bild ist nun das teuerste Gemälde René Magrittes und der Maler schnellt auf der Liste der Auktionsweltrekorde um zwanzig Listenplätze nach vorne unter die Top-Ten.

Im Folgenden überschlagen sich die Ereignisse: Das Gemälde wird trotz größter Sicherheitsvorkehrungen auf dem Transport zu dem neuen Eigentümer in den Niederlanden gestohlen. Robert Patati, der Teil des Sicherheits-Konvois ist, verfolgt die Diebe, kann an einem Bahnübergang in Maastricht die Schienen mit seinem Auto nicht mehr rechtzeitig verlassen und verursacht ein Zugunglück mit vielen Verletzten. Obwohl er den Kamerateams vor Ort und der Polizei gegenüber immer wieder auf den Diebstahl des Gemäldes hinweist, hält ihn die Polizei für einen Terroristen, der das Zugunglück absichtlich herbei geführt hat.

Fast zur selben Zeit gibt es einen Brand bei der Roeder AG in Aachen, deren Eigentümer die Familie ist, der die Scheherezade von René Magritte zuvor gehört hat. Der Tod einer leitenden Wissenschaftlerin in den Flammen und der Materialschaden drohen die Existenz der Firma  zu zerstören:

Die Stahljalousien hingen verformt  vor den Fenstern. Ein paar Lichtstreifen fielen auf zwei Netzwerk- und Serverschränke, die mitten im Zimmer aufgestellt waren. Sie waren leer. Hier waren also die Firmendaten aufbewahrt worden. Vermutlich hatte man die Überreste der Server schon gesichert. Die Montageschienen, Kabelführungen und Lüftereinheiten waren geradezu zerbröselt. Kaum vorstellbar, dass diese Hitze nicht auch die auf den Servern gespeicherten Kronjuwelen des Labors selbst vernichtet hatte

Die Ermittler aus Deutschland und den Niederlanden finden heraus, dass der Käufer des Bildes Eigentümer einer Firma ist, die auf einem ähnlichen Gebiet wie die Roeder AG arbeitet: der Robotik. Handeln die beiden Firmen womöglich nur zum Schein mit Kunst?

Höchstgebot ist bereits die dritte Co-Produktion des deutschen Autors Thomas Hopes und des Niederländers Jac. Toes, der zeitgleich mit der deutschen Veröffentlichung unter dem Titel Het boogste bod auch auf niederländisch erschienen ist. Für ihren ersten gemeinsamen Krimi sind Thomas Hoeps und Jac. Toes für den niederländischen Krimipreis Gouden Strop nominiert worden. Mit Höchstgebot ist ihnen wieder ein sehr lesenswerter Krimi gelungen, in dem neben dem spannenden Kriminalfall auch die deutsche und niederländisch Mentalität immer wieder das zentrale Thema ist.

Bellboy

In Bellboy von Jess Jochimsen steht plötzlich ein Taxifahrer vor Lukas’ Tür und fragt, ob der Irre zu ihm gehört. Lukas entdeckt im Hausflur seinen Cousin Paul, den er lange nicht gesehen hat und der sich ungewöhnliche benimmt. Der Taxifahrer verlangt noch sein Fahrgeld und drückt Lukas einen Zettel in die Hand, auf der in Kinderschrift seine Adresse und der Satz: ‘Er muss es wissen’ steht. Lukas ist ratlos. Es ist die erste Begegnung mit seiner Familie nach einer Ewigkeit:

Paul ist mein kleiner Cousin, mehr als zehn Jahre hatte ich ihn nicht gesehen, er blieb zurück in der Provinz, in der miefigen Enge von Elternhaus und Verwandtenbesuchen, von grauen Reihenhaussiedlungen, einsamen Bushaltestellen und traurigen Stadtfesten. Er blieb zurück in der Welt der Ausfallstraßen, der Sonntagskleidung, der Ohrfeigen, der >Willst du mit mir gehen?<-Zettelchen, er blieb zurück in dem Leben mit Hautausschlag, das ich verlassen hatte

Lukas weiß sich nicht anders zu helfen, als bei der Verwandtschaft, die nach wie vor in seinem Heimatdorf lebt, anzurufen und sich nach Paul zu erkundigen. Für Lukas eine aufwühlende Begegnung mit der ‘heilen Welt’ der Kleinstadt, schon der Anrufbeantworterspruch seiner Schwester bringt ihn in Rage.

Nach und nach wird Paul zum festen Bestandteil von Lukas’ WG. Er erholt sich, ist fröhlich und bemüht sich nach Kräften, im alltäglichen Tagesablauf eine Hilfe zu sein. Doch Pauls extreme Vergesslichkeit wird mehr und mehr zum Problem. Lukas kümmert sich immer hingebungsvoller um Paul. Die WG wird zu einem eingespielten Team, das an freien Tagen gemeinsam viele Reisen unternimmt, bei denen Paul zum ersten Mal in einem Hotel übernachtet, dem Bundeskanzler seine Handynummer hinterlässt oder ein Ausflugsschiff der Königlich-Bayerischen Seenschifffahrt auf dem Starnberger See zum Kentern bringt.

Adler und Engel

„Adler und Engel“ ist Juli Zehs erster Roman. Er handelt von Max, der sich gerade von einem gefühlten Versager hin zu einem gefragten Anwalt für Völkerrecht entwickelt hat. Doch als er plötzlich nach vielen Jahren seine frühere Schulfreundin Jessie wieder trifft, ist plötzlich alles anders. Jessie hat Probleme und Max gerät immer tiefer hinein in einen Strudel aus Scheinwahrheiten und Betrug.

Der Beitrag ist im Ausbildungsradio funkbude ausgestrahlt worden

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