FOLK

Für die Besucher von Romeo Castelluccis FOLK. gibt es keine Sitzplätze. Viele schauen sich irritiert um, suchen sich aber ohne viel Worte einen Stehplatz am Rande des riesigen, aufblasbaren Bassins, das fast die ganze Gebläsehalle des Landschaftspark Duisburg-Nord ausfüllt. Unwillkürlich rücken wir alle ein bisschen zusammen, sehen uns genau um, versichern uns gegenseitig, dass in dem riesigen Becken unmittelbar vor uns warmes Wasser ist und warten ab.

Szene aus FOLK im Rahmen der RuhrtriennaleNach einer Weile steigt plötzlich steigt ein voll bekleideter Mann in das Becken und läuft im hüfthohen Wasser langsam auf die Mitte des Beckens zu. Eine Frau am anderen Ende tut es ihm gleich. Beide sind normal gekleidet und unterscheiden sich nicht von den Zuschauern. In der Mitte angekommen, umarmen sich Mann und Frau lange und scheinen sehr glücklich, sich gefunden zu haben. Schließlich helfen sie einander, rücklings und mit zugehaltener Nase unterzutauchen. Um das Becken herum stehen lauter Menschen, aber die beiden im Wasser sind vollkommen alleine mit sich. Sie sprechen überhaupt gar nicht, noch nicht einmal miteinander, sondern bedeuten sich durch Gesten und Körperkontakt, was zu tun ist. Nachdem beide vollkommen untergetaucht sind, umarmen sie sich noch herzlicher als vorher.

Romeo Castellucci sagt beim tumbletalk, dem Gesprächsformat der Ruhrtriennale, es sei ihm eigentlich unmöglich, über den Prozess der Entstehung seiner Stücke zu sprechen. Ihm selbst sei nicht klar, wo genau seine Ideen her kämen. Sagen könne er aber, dass der Ausgangspunkt immer Alltägliches sei. Er erinnere sich, dass er im Auto eine CD über Taufen im Mississippi angehört habe, die seine Idee entzündet hätte. Ihn interessiere die gesellschaftliche Funktion dieses Rituals, das immer seltener werde. In seinem Stück sei es ein Ritual, das ohne Gott statt finde und deswegen leer bleibe. Doch ein Ritus drücke immer aus, wie Gesellschaft sich bilde.

Szene aus FOLK im Rahmen der RuhrtriennaleDie Gesten des Mannes zum Abschied sind herzlich. Doch schließlich geht er zurück zum Rand des Beckens und verlässt es wieder. Die Frau bleibt allein in der Mitte des Beckens zurück als warte sie. Als eine andere Person wieder vollbekleidet über den Rand des Bassins klettert ermuntert sie sie mit offenen Armen, zu ihr zu kommen. Etwas zögerlich läuft die andere Person in die Mitte des Beckens und umarmt die Frau. Sie hilft der anderen Person wie schon zuvor, rücklings ganz unterzutauchen. Dann umarmen sie sich wieder lange und emotional.

Dieser Vorgang wiederholt sich viel Male. Es bleibt immer die Person zurück, die als letzte untergetaucht ist, nimmt eine andere in Empfang und wiederholt das Ritual. Obwohl sich alle in der Mitte des Beckens zum ersten Mal zu begegnen scheinen, wird jeder herzlich und mit offenen Armen empfangen. Manche erscheinen zunächst traurig und besorgt auf ihrem Weg in die Mitte. Das Untertauchen macht gerade diese Menschen lebendiger, fröhlicher und unbeschwerter. Es ist offensichtlich eine sehr positive Erfahrung. Dabei bleiben die zwei im Becken die ganze Zeit über allein, niemand sonst mischt sich ein. Dazu erklingt wie aus dem Nichts ein sanft und melodisch singenden Frauenchor.

Romeo Castellucci erklärt, das Wasser sei immer als wichtigstes Element gesehen worden und als Mittel und Medium der Kommunikation. Es sei ein berührbarer Ausdruck der Gemeinschaft und mache die Beziehungen sichtbar, die wichtig und vielleicht auch gefährlich seien. Da es ihm um diese Beziehungen in einem Volk beziehungsweise in einer Gemeinschaft gehe, wolle er nicht mit professionellen Schauspielern arbeiten. Ein echtes Volk solle zum Mittelpunkt des Stückes werden. Deswegen entspräche auch die Anzahl der Statisten der des Publikums. Es sei immer wieder vorgekommen, dass einer der Besucher in das Bassin gestiegen und sich am Ritual beteiligt habe. Der Besucher selbst könne in FOLK. zum Protagonisten werden. Dem Prinzip des Zufalls und der Unordnung wolle er in seinem Stück Platz einräumen.

Szene aus FOLK im Rahmen der RuhrtriennaleAls es irgendwann einen lauten Schlag aus dem oberen Teil des Raumes gibt, nehme ich die Rundbogenfenster hoch oben unter der Decke erst richtig wahr. Wir zucken alle erschrocken zusammen und schauen uns ratlos an. Als kurz darauf mehrere donnerartige Schläge ertönen, bemerken wir, dass sich oben gegen die Fenster schattenartige Gestalten mit ihrem ganzen Körper werfen. Wir beruhigen uns langsam wieder, obwohl sich immer mehr solcher Gestalten gegen die Fenster werfen und das Donnern eher noch lauter wird. Das Ritual geht dabei die ganze Zeit weiter. Die beiden im Bassin scheinen von dem Krach gar nichts zu bemerken.

Der Lärm wird immer unerträglicher. Man kann die Donnerschläge physisch spüren. Irgendwann stehen sich zwei Männer im Bassin gegenüber und führen das Ritual nicht weiter. Sobald niemand mehr im Wasser ist, sticht einer der Männer in das aufblasbare Bassin. Das Wasser ergießt sich sintflutartig in die Halle. Wir suchen am Rand Schutz vor dem Wasser. Dröhnend erklingt die Musik einer Kirchenorgel. Der Mann, der das Bassin zerstört hat, schneidet nach und nach die leere Hülle das Bassin in zwei Teile. Sie werden in die Höhe gehoben. Danach sitzt ein Mann ganz allein vor einem Tisch, auf dem sich eine Art Puzzle befindet. Er muss unterschiedliche Formen zusammen fügen. Es kostet ihn offensichtlich viel Mühe. Schließlich schmeißt er das letzte Teil weg und verlässt den Raum.

Szene aus FOLK im Rahmen der RuhrtriennaleBeim tumbletalk heißt es, viele Zuschauer hätten nicht verständen, warum das Stück auf einmal zu Ende seiRomeo Castellucci meint, es sei nicht die Aufgabe der Kunst, Bedeutungen zu schaffen. Darin liege eher eine große Gefahr. Es sei grundsätzlich nicht möglich, einem Kunstwerk eine klare Deutung zu geben. Für einen Künstler gehe es darum, etwas zu schaffen, das notwendig sei. Der Zuschauer sei eine Art Detektiv, der die einzelnen Teile des Theaterstücks wieder zusammen setzen müsse. So erschaffe es einen Kontakt zum Zuschauer. Die menschliche Wahrnehmung liege allein im Körper des einzelnen Menschen und hänge von ihm ab. Da Menschen etwa unterschiedliche Erfahrungen oder Ausbildungen hätten, nähmen sie manches unterschiedlich wahr, es gebe nie nur eine Wahrheit. Die Reaktion des Publikums ließe sich auch niemals planen, er lasse sich davon überraschen. Es tue ihm Leid, dass sich manchmal Menschen durch seine Arbeit provoziert fühlten. Das sei nicht seine Absicht und nehme dem Stück womöglich etwas weg. Grundsätzlich gebe es im Theater einen Widerstreit von These und Antithese ohne Auflösung. Außer im orientalischen und japanischen Theater rekurriere jedes im Theater aufgeführte Stück immer auf die griechische Tragödie. Deren Kern sei die Leere voller Kälte. Der griechischen Tragödie entspringe das Recht, das sich erst nach dem Ende der Götter durchsetzen könne. Das Theater sei der menschliche Ausdruck, der dem Leben am nächsten sei, man mache gemeinsame Erfahrungen zur selben Zeit.

FOLK. arbeitet mit vielen Sinneseindrücken und macht Erfahrungen sehr unmittelbar. Für mich war nichts vorhersehbar. Ich war nicht nur passiver Zuschauer, sondern konnte tatsächlich den Schutz spüren, den menschliche Gesellschaft in einer unvertrauten Situation bieten kann und damit, was den Ursprung aller Gemeinschaft ausmacht.

Uferwechsel

Von dem Mord erfährt der indischstämmige Privatdetektiv Vijay Kumar in Uferwechsel von Sunil Mann durch seinen guten Freund José von der Boulevard-Presse. José hat Vijay Kumar mit penetrantem Klingeln dazu gebracht, ihn an diesem frühen Wintermorgen über die verschneiten und zugeisten Straßen zum Fundort der Leiche in unmittelbarer Nähe des Züricher Flughafens zu fahren. Die Autofahrt ist gefährlich, es ist eiskalt und außer einem Foto bekommt er nichts von der Leiche zu sehen. Aber Vijay Kumar lernt bei dieser Gelegenheit Staatsanwalt Tobler kennen:

Ein weiterer Wagen war jetzt zu hören, ein dunkler Mercedes, der in halsbrecherischem Tempo den Waldweg heraufpreschte und ruckartig vor der Absperrung anhielt. Als wäre es ein inszenierter Auftritt, ließ genau in diesem Augenblick der Sturm nach. Der Wind flaute ab, nur der Schnee fiel weiterhin in großen, flauschigen Flocken vom dämmrigen Himmel. Die Journalisten verstummten abrupt und wirkten mit einem Mal angespannt, während die Uniformierten entweder eine stramme Haltung annahmen oder beschäftigt guckten. Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten. Dann schwang die hintere Tür des Wagens auf und ein athletisch wirkender Mann mit grau melierter, perfekt sitzender Frisur entstieg ihm. Er blieb vor dem Fahrzeug stehen und blickte sich mit selbstgefälliger Miene nach allen Seiten um, als hätte er soeben unter frenetischem Beifall eine Bühne betreten

Nachdem Tobler sich umgesehen und der Presse gegenüber keinen Kommentar gegeben hat, spricht er Vijay Kumar mit Namen an. Der Staatsanwalt hat von ihm und seinen bisher gelösten Fällen aus der Zeitung erfahren. Jetzt bittet er ihn um Zurückhaltung. Doch natürlich lässt der Fall Vijay Kumar nicht los. Er recherchiert und glaubt Parallelen zu einem anderen Fall entdeckt zu haben, bei dem ein junger Flüchtling kurz vor Erreichen des Flughafens aus seinem Versteck im Flugzeug gefallen und dabei ums Leben gekommen ist. Ermutigt durch Toblers Kontaktaufnahme, sucht Vijay Kumar ihn in der Staatsanwaltschaft auf und teilt ihm seine Theorie mit. Am nächsten Tag muss er seine Idee fassungslos in der Zeitung lesen:

Ich knallte das Glas, in dem der Latte macchiato serviert worden war, so heftig hin, dass der Kaffee hochschwappte und auf die Titelseite der größten Schweizer Boulevardzeitung spritzte. Ich konnte nicht glauben, was ich gerade las. Der Mann, der vom Himmel fiel, stand da in fetten Buchstaben, darunter war ein Bild des äußerst fotogenen Staatsanwalts Dr. Frank R. Tobler zu sehen, der sich im nachfolgenden Bericht dafür feiern ließ, dass er das Geheimnis um den Toten von Zumikon gelüftet hatte. Ein Flüchtling, der sich im Fahrwerkkasten eines Flugzeugs versteckt hatte und dabei erfroren sei, ein tragisches Schicksal, ließ sich der Staatsanwalt zitieren. Er dankte der Bevölkerung für die zahlreichen Hinweise, die im Verlauf des gestrigen Tages bei der Staatsanwaltschaft und der Kripo eingegangen seien. Wütend schob ich die Zeitung von mir

Dann erhält Vijay Kumar den anonymen Anruf eines Mannes. Der Mann bittet ihn, an dem Fall weiter zu arbeiten. Er behauptet zu wissen, dass der tote junge Mann kein Flüchtling und auch sicher nicht aus einem Flugzeug gefallen sei. Geld spiele keine Rolle. Seine Recherchen führen Vijay Kumar in die Züricher Homosexuellen-Szene und ins Rotlichtmilieu:

Den Nachmittag verbrachte ich damit, mir passende Kleidung zurecht zu legen: eine enge weiße Hose, die ich aus den Tiefen meines Kleiderschranks zutage förderte, und ein farbenprächtiges Hemd aus synthetisch glänzendem Stoff, der knisternd Funken sprühte, wenn man darüber strich. Das Kleidungsstück hatte mir eine meiner unzähligen Tanten vor Jahren aus Indien geschickt – im irrigen Glauben, sie träfe damit meinen Geschmack. Ich hatte nicht im Traum damit gerechnet, jemals in eine derart hoffnunglose Situation zu geraten, die das Tragen des Hemdes unabdingbar machte, doch nun war ich froh, dass ich es nicht in die Altkleidersammlung gegeben hatte

Ihm gelingt es, Bekannte des Toten ausfindig zu machen und es stellt sich heraus, dass der tote junge Mann wahrscheinlich ein Stricher gewesen ist. Doch von den Bekannten des Toten scheint niemand als Täter in Frage zu kommen. Doch plötzlich stirbt ein weiterer junger homosexueller Mann auf rätselhafte Weise und es scheint sich ein Zusammenhang zu dem Todesfall aufzutun, an dem Vijay Kumar gerade arbeitet und womöglich zu noch einem Weiteren. Eine entscheidende Rolle spielt offenbar eine Organisation mit dem Namen Sanduhr, die Homosexuellen verspricht, sie zu einem Heterosexuellen ‘verändern’ zu können. Die Sanduhr steht wegen einiger Selbstmorde und psychischer Störungen in der Kritik. Auch Staatsanwalt Tobler scheint Kontakt zu der Organisation zu haben. Vijay Kumar vermutet nach und nach, dass der Staatsanwalt womöglich ein persönliches Interesse daran gehabt hat, die Geschichte des Toten nicht weiter aufzurollen, sondern ihn als einen Flüchtling ohne Vergangenheit in Zürich zu behandeln.

Ein spannender Krimi!

12 Rooms

Als ich den Bereich der Ausstellung 12 Rooms im Museum Folkwang in Essen betrete, wirkt auf mich alles sehr unspektakulär. Ich sehe nur graue Wände, in die manchmal eine Tür eingelassen ist. Die Türen sind verschlossen und es sind auch keine Geräusche zu hören. Langsam bemerke ich, dass ich mich in einem labyrinthartigen Gangsystem aus grauen Wänden und verschlossenen Türen bewege. An den Ecken der Wände sind offenbar die Namen der Künstler und des Kunstwerks hinter der Tür vermerkt, auf das ich mir von Außen keinerlei Vorstellung machen kann.

Türspalt in einem labyrinthartigen Gangsystem

Ich gelange an eine Tür, die einen Spalt breit offen steht und so fixiert ist. Von Außen habe ich den Eindruck, dass sich dahinter schwärzeste Dunkelheit befindet. Auch als ich an den Türspalt näher heran trete, kann ich überhaupt nicht erkennen, was sich in dem Raum befindet oder abspielt. Xavier Le Roy, der Künstler, der diesen einen der insgesamt zwölft Räume gestaltet hat, spricht beim tumbletalk davon, dass Dunkelheit nur auf den ersten Blick eine Veränderung in der menschlichen Wahrnehmung einer unbekannten Situation ist. Der Besucher wisse, dass er eine gewisse Zeit brauche, bis er sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt habe und etwas im Raum erkennen werde. Eigentlich brauche man aber immer längere Zeit, um sich auf  eine unbekannte und unvertraute Situation einzustellen und sie erfassen zu können. Im Museum könne der Besucher im Gegensatz zum Theater selbst entscheiden, wie lange er sich welchem Kunstwerk widme. Im Theater sei der Besucher eher passiv und bleibe die ganze Zeit auf seinem Platz sitzen. Er lasse als Teil einer Gruppe andere über den Inhalt der nächsten Zeit entscheiden.  Live-Art könne beide Prinzipien miteinander verbinden. Als ich mich durch den dunklen Türspalt wage, weiß ich, dass sich wahrscheinlich in jedem der zwölf Räume lebende Menschen als Performer befinden. Ich kann im Inneren einige Zeit nichts erkennen und gehe aus Angst davor, auf jemanden zu treten lieber erst einmal wieder hinaus.

Menschliche Türen und Kopfhörer im Solarium

Als ich die grauen Gänge entlang laufe, entdecke ich einen Raum ohne Tür und sehe Menschen in bunter Sportkleidung sich in dem offenbar runden Raum in unterschiedlichen Geschwindigkeiten im Kreis bewegen. Ich bin bei der Revolving Door von Allora & Calzadilla angekommen.

Ich setze meinen Rundgang fort und bin langsam bereit, eine Tür zu öffnen und mir anzusehen, was sich dahinter verbirgt. Ich sehe einen blonden jungen Mann mit Badehose, der auf einem grell erleuchteten Solarium liegt. Er hat einen dunklen Lichtschutz auf den Augen und Kopfhörer im Ohr. Fast stakkatoartig ruft er in regelmäßigen Abständen französische Wörter. Die Wörter ergeben keinen Satz und keinen Sinn. Das Solarium steht in der Mitte des Raumes, darum herum sind nur leere weiße Wände. An einer Stelle hängt ein weißer Bademantel an der Wand, davor stehen Badelatschen. Der junge Mann ruft weiter französische Wörter und scheint auf nichts um sich herum zu reagieren. Simon Fujiwara hat diesen Raum gestaltet. Ihm gehe es bei Future / Perfect darum, einen typischen Repräsentanten seiner Generation zu zeigen, sagt Simon Fujiwara im tumbletalk. Die Thatcher-Regierung habe unter den Menschen in Großbritannien die Erwartung geweckt, dass jeder, der vor allen Dingen gut aussehe und eine fremde Sprache gelernt habe, erfolgreich und ‘easy-going’ sein werde. Tatsächlich sei der junge Mann komplett isoliert und könne nicht mit seiner Außenwelt interagieren, da er nichts sehen und hören könne. Er brabbele lediglich Wortfetzen aus einer fremden Sprache vor sich hin und höre über seine Kopfhörer nur seine Sprachlernübung. Als Performer des idealisiert wirkenden jungen Mannes in dieser futuristischen Umgebung, seien junge Arbeitslose aus der Gegend ausgewählt worden. Manche Rezipienten hätten Parallelen zu Dorian Gray gezogen. Dem Protagonisten in dem gleichnamigen Roman von Oscar Wilde gelingt es für lange Zeit, die optischen Spuren seines ausschweifenden und moralisch fragwürdigen Lebens zu verbergen. Auch der gut gebaute junge Mann auf dem Solarium sei dort einem schnellen Alterungsprozess ausgesetzt und sein gutes Aussehen extrem gefährdet. Die Szenerie habe etwas von einem absurden Theaterstück.

Brabbeln und ein Feuerzeug

Besucher 12 RoomsIch gehe weiter die Gänge entlang und entdecke Besucher, die vor einer Tür knien, die keine ist. An Stelle der Tür ist eine Vertiefung in der Wand. Nur wenige Zentimeter über dem Boden ist ein Loch im Türrahmen, durch das man nur sehen kann, wenn man sich ganz auf den Boden kniet. Auch ich knie mich auf den Boden und kann in einer Art Zimmer mit extrem niedriger Decke neben einer großen Lampe auf dem Teppichboden eine liegende Person erkennen. Es scheint sich um eine Frau zu handeln, die sich kaum bewegt, nichts um sich herum wahrnimmt und unverständlich vor sich hin brabbelt. Ich gehe nach einer Weile weiter.

In manchen Räumen frage ich mich eine ganze Weile, ob ich wirklich einen lebendigen Menschen vor mir habe oder doch eine Puppe. In anderen Räumen werde ich und die anderen Besucher sofort in ein Gespräch verwickelt, wie im Raum mit dem Titel Swap von Roman Ondàk. Der Performer hält ein gelbes Feuerzeug in den Händen und spricht auf Englisch über Tausch als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. Er sitzt in einem sonst kahlen Zimmer an einem einfachen Tisch, wie er auch von Schülern in der Schule benutzt werden könnte. Nach einer Weile bietet ein Besucher dem Performer ein Paket Taschentücher im Tausch gegen das gelbe Feuerzeug. Der Performer willigt begeistert ein. Besucher und Performer einigen sich darauf, später zu besprechen, wie lange der Performer das Paket Taschentücher behalten und wogegen er es schließlich eingetauscht hat. Ich und alle anderen Besucher verlassen danach den Raum.

Sprache und Rauschen

Angekommen im Room Tone von Lucy Raven erlebe ich, wie ein zuvor auf einem Tonband aufgenommener Text von einer Frau immer wieder abgespielt und zeitgleich auch aufgenommen wird. An einer Wand neben dem Tisch mit den Tonbändern gibt es eine sofaartigen Sitzgelegenheit. Ich nehme darauf Platz und höre, wie sich die Stimme von Mal zu Mal verzerrter anhört und langsam im allgemeinen Rauschen untergeht. Für diese Performance habe sie sich von dem amerikanischen Komponisten Alvin Lucier inspirieren lassen, erklärt Lucy Raven im Rahmen des tumbletalk. Er habe 1969 ein Stück namens I am Sitting in a Room entwickelt, das nie öffentlich aufgeführt worden sei. Wie in dem von Lucier erdachten Raum gebe es auch in diesem ein Mikrofon, zwei Tonbandgeräte, einen Verstärker und einen Lautsprecher. Die Aufnahmen würden mehr und mehr von den natürlichen Resonanzfrequenzen des Raums gedämpft. Was nach dem langsamen Verschwinden der Stimme und der Geräusche der Besucher letzlich von der Aufnahme auf dem Band übrig bleibe, sei der ‘Raum-Ton’. Als Performerin arbeite sie häufig, auch in diesem Fall, mit Handlungsanweisungen. Ein Computer funktioniere auch auf dieser Basis, er sei das Gerät, das Handlungsanweisungen ausführe. Für Room Tone arbeite sie aber mit einem Tonbandgerät, das technisch gesehen noch nicht so weit entwickelt sei wie ein Computer. In den 80ern seien Tonbandgeräte sehr populär gewesen, sie wolle auf die Geschichte des Entertainments und der Technik hinweisen. Eine Aufnahme zu machen sei eine Form des Protests gegen das Vergessen.

In ständiger Veränderung

Nach und nach erkunde ich die restlichen Räume der Ausstellung. Manchmal gelange ich in einen Raum, den ich vorher schon einmal besucht habe und finde eine deutlich veränderte Situation vor. Genau gesagt, erlebe ich an keiner Stelle dasselbe ein zweites Mal und bekomme Spaß daran, die Räume immer wieder zu besuchen.

Das Thema Zeit zu behandeln und eine enge Verbindung zwischen dem Theater und dem Museum herzustellen seien die Vorgaben für diese Ausstellung gewesen, konnten  Besucher des tumbletalk von den Kuratoren der Ausstellung, Klaus Biesenbach und Hans Ulrich Obrist, erfahren. In Auftrag gegeben habe die Ausstellung das Manchester International Festival. Dort sei die Ausstellung zuvor mit 11 Räumen zu sehen gewesen. Im Museum Folkwang seien Damien Hirst und Xavier Le Roy neu hinzugestoßen. Interessiert habe sie, intime Erlebnisse mit Menschen zu erzeugen, die sich nicht kennen. Die Räume seien vergleichbar mit der Situation, wenn man einer unbekannten Person in einem Fahrstuhl begegne, die ungewöhnlich aussehe oder etwa nackt sei und mit der man eine gewisse Zeit verbringen müsse, nachdem sich die Türen geschlossen hätten. Außerdem hätten sich die Performer an klassische Statuen anlehnen sollen, die Menschen für gewöhnlich sehr idealisiert darstellten. In der Ausstellung 12 Rooms sei die idealisierte Person lebendig und benähme sich häufig unerwartet und unvorhersehbar. Man wolle, dass sich die Ausstellung weiter entwickele, es sei bereits geplant, dass die Ausstellung vermutlich in einer veränderten Form danach in Sydney zu sehen ist.

Echt abgefahren!

Eigentlich hat sich der zwölfjährige Jan Hensen in Echt abgefahren! von Hans-Jürgen Feldhaus zum Geburtstag einen Tablet-Computer gewünscht, um damit Spiele zu spielen und die Schule mit ihren unterträglichen Matheaufgaben wenigstens in den Ferien vergessen zu können:

Du kennst doch diese Typen aus den Mathebüchern, oder? Ich meine, die aus den Textaufgaben! Du weißt schon: Torsten! Carsten! Sören! Einer von denen oder gleich alle zusammen backen immer Apfelkuchen oder irgendeinen anderen Scheiß. Jedenfalls kaufen sie dafür einen Haufen Äpfel und unterhalten sich dann: >Oh, Torsten! In 14 meiner 59 Äpfel ist jeweils ein Wurm drin!< >Ja, Carsten!<, sagt der Torsten. >Und von meinen 7 Äpfeln sind 6 faul< >Wie viel Prozent aller Äpfel können wir für unseren Apfelkuchen nehmen?<, fragt sich dann Sören. Und dann musst du für diese Hirnis ausrechnen, wie viele Äpfel komplett vergammelt sind und wie viel Prozent sie für ihren bescheuerten Kuchen verwenden können!

Jetzt muss Jan seinen Ärger über die Schule und den Urlaub in einem ganz normalen Tagebuch aus Papier festhalten. Und Unerträgliches gibt es jede Menge. Dazu gehört zum Beispiel, dass seine Eltern ihm wahrscheinlich keinen Tablet-Computer geschenkt haben, weil der Klassenlehrer Jans ‘Lernkompetenz’ für ‘mangelnd’ hält. Außerdem ist seine ältere Schwester Hannah dabei, die ihn liebend gerne bloß stellt und von der er sein Tagebuch stets mit allen Mitteln fern halten muss:

… und was sehe ich, als ich ins Zimmer komme? Hannah mit dem Buch in ihren Fingern! Sie schlägt es auf und in einem Bruchteil einer Sekunde hechte ich von der Tür aus auf sie zu, schnapp es mir und rolle mich wie ein Profitorwart auf dem Boden ab. … also gut, ich weiß jetzt nicht, wie groß der Bruchteil einer Sekunde von der Tür bis zu Hannah war, aber ich schwöre, es war verdammt schnell. …nur die Profitorwart-Parade war jetzt nicht ganz so toll, weil da noch dieser dämliche Koffer von Hannah war, über den ich aus Versehen gestolpert bin, und dann um ein Haar mit meinem Kopf gegen die Wand geknallt wäre, wenn da nicht noch dieser Reisemüllbeutel gelegen hätte mit dem ganzen Proviant-Matsch drin …

Grund zum Ärgern gibt Jan auch seine bewegungsfreudige Mutter, die die ganze Familie immer wieder nötigt, Städtetouren, ausgedehnte Ausflüge und lange Wanderungen zu unternehmen. Als ob all diese Strapazen nicht schon mehr als zu viel wären, begegnet Jan in diesem Urlaub auch noch überraschend Hendrik Lehmann, dem schlimmsten Streber seiner Klasse. Jans Eltern freunden sich mit Hendriks Eltern an und Jan muss ganze Abende und mehrere Ausflüge gemeinsam mit Hendrik Lehmann überstehen. Hendrik Lehmann besitzt natürlich den Tablet-Computer, den Jan sich so sehr wünscht und zieht damit die ganze Aufmerksamkeit der Urlaubs-Kumpels auf sich.

Hendrik Lehmann hatte es also geschafft: Er hat mir meine Freunde weggenommen. Mit seinem iPad… und Real Asphalt HD! MEINEM Spiel!

Noch mehr Kopfzerbrechen bereitet Jan allerdings, dass Hendrik Lehmann über die Einzelheiten einer wirklich unangenehmen Katastrophe Bescheid weiß, in die Jan und seine Freunde bei der letzten Klassenfahrt verwickelt worden sind. Jetzt muss er fürchten, dass Hendrik Lehmann ihn bei seinen Eltern verpetzt und wird von Alpträumen geplagt. Doch offenbar trägt auch Hendrik Lehmann unangenehme Probleme mit sich herum…

Mit diesem Buch kann jeder ab elf Jahren sein Trauma aus dem letzten Urlaub verarbeiten oder sich vielleicht sogar ein bisschen freuen, dass man gar nicht weg war. Toll ergänzt wird der Text von lauter witzigen Zeichnungen auf fast jeder Seite.

Eindrücke von Zeichnungen des Grafikers Hans-Jürgen Feldhaus und mehr Informationen gibt es unter: www.hjfeldhaus.de

Zwischen zwei Scheiben Glück

In Zwischen zwei Scheiben Glück von Irene Dische hat Peters Vater Laszlo eine bemerkenswert lebensfrohe und positive Herangehensweise an alle Dinge. Als ihm seine junge Geliebte Dalia unter Tränen gesteht, sie sei schwanger, stürmt er sofort nach Hause und zündet mehrere Feuerwerksknaller, die er sich für einen besonderen Moment zurück gelegt hatte. Kein Wunder, dass auch das Hochzeitsfest ein ‘fröhliches, ausgelassenes Fest’ wird, bei dem sich sogar Laszlos Vater gut amüsiert.

Schon häufig hat sich der Vater darüber beschwert, dass ihm sein Sohn fremd sei. Laszlo sei ein Heißsporn und habe kein Talent zur Mäßigung. Aber er erhöht den monatlichen Unterhalt, damit Laszlo, während er in Budapest das Jurastudium abschließt, seine Familie versorgen kann. Doch das Familienglück währt nicht lang. Ausgerechnet in dem Auto, dass Laszlos Vater ihm aus Freude über den neuen gut bezahlten Posten im diplomatischen Dienst schenkt, kommt Dalia durch einen Unfall ums Leben. Laszlo selbst überlebt mit ein paar Schrammen und trauert eine Weile sehr um seine Frau:

Dalias Tod machte Laszlo Nagel für eine Weile sehr traurig. Aber dann schlug sein Naturell wieder durch. Er konnte es nicht ändern, er liebte das Lebendigsein. In Budapest galt er schon bald als lustiger Witwer

Laszlo verbringt viel Zeit mit seinem Sohn Peter, dem er erzählt, er habe ihn in einem Spezialgeschäft für rothaarige Kinder gekauft und dass er einen Vater habe, der ein Glückspilz sei. Sie erkunden die Umgebung gemeinsam auf eine ihnen eigene Weise und Peter liebt seinen Vater abgöttisch. Eines Abends flüstert Laszlo seinem Sohn vor dem Einschlafen zu:

Auf jeden Fall weiß ich, dass du deinen eigenen Kopf haben wirst, wenn du groß bist. Du wirst vor nichts Angst haben. Nicht einmal vor dem Sterben. Aber vor allem wirst du gern leben. O ja, du wirst das Leben genießen

Laszlo und sein Sohn erkunden die Stadt ausgiebig. Sie gehen gemeinsam zu vielen Veranstaltungen, Festen oder auch ins Kino. Schon bald werden sie mit den Auswirkungen der Nazi-Herrschaft konfrontiert und entwickeln ihren eigenen ganz speziellen Umgang mit den Gegebenheiten. Zwischen zwei Scheiben Glück, ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, ist ein sehr humorvolles und fürsorgliches Buch, dem es gelingt, seine Leser mit der Lebensfreude der Charaktere anzustecken.

Long Reach

In Long Reach von Peter Cocks hat tatsächlich vieles Ähnlichkeit mit James Bond. Seitdem der siebzehnjährige Protagonist Eddie Savage heißt und für den britischen MI5 arbeitet, hat er einen ganz modernen Computer, mehrere schicke und teure Handys, Schuhe, in deren Absätze USB-Sticks und Chipkarten passen sowie eine Uhr, die bis zu acht Stunden lang Gespräche aufzeichnen kann. Außerdem weiß er, wie er Gegner mit Alltagsgegenständen wie einem Kugelschreiber schwer verletzen oder heimlich Spyware auf Computern installieren kann. Für seine schicken Klamotten ist eine unglaublich gut aussehende Agentin verantwortlich, die er aber doch eher als belastend empfindet:

Sie warf mir noch andere Hemden zu: Paul Smith, Ralph Lauren, ein paar Pullis aus weicher Wolle, dann Bootsschuhe, Nikes und Schnürschuhe aus Wildleder. Ich versuchte mich an anderen Kombinationen und langsam war es mir nicht mehr ganz so peinlich, halb nackt vor dieser heißen Frau rumzustehen

Seit sein großer Bruder gestorben ist, hat Eddie ohnehin das Gefühl, dass seine Kindheit ein jähes Ende gefunden hat. Seines Mutter weint ständig und er selbst fühlt sich schutzlos und ohne Halt. Auch der Bruder hat für den MI5 gearbeitet. Zu Letzt hat er allerdings extrem gestresst gewirkt. Jetzt ist der MI5 an Eddie heran getreten. Er soll der Tochter eines Mafia-Bossis so nahe wie möglich kommen. Ein Mitschüler mit Sprachfehler versichert ihm unumwunden, dass er dem richtigen Mädchen auf der Spur ist:

Ihr Alter  soll so eine Art Gangsterboss sein. Chwerer Raub, Rauchgift, Fälchung… das volle Programm

Er wird von mehreren Leuten in der Schule gewarnt, aber Eddie bleibt tapfer. Und dann läuft es richtig gut zwischen den beiden. Als er bald auch ihre Eltern kennen lernt, fängt er an, sich immer tiefer in die Angelegenheiten ihrer Familie zu verstricken und erfährt nach und nach, was wirklich an den Gerüchten dran ist. Dabei stößt er widererwartend auch auf Spuren seines großen Bruders. Long Reach von Peter Cocks ist ein sehr vielseitiges und spannendes Buch und nicht nur für Teenager lesenswert. Mir hat es gefallen.

Black Rabbit Summer

Die drei Wochen seit Beginn der Ferien hat Pete Boland in Black Rabbit Summer von Kevin Brooks ausschließlich mit Nichtstun im Haus seiner Eltern verbracht. Irgendwie kann er sich zu nichts aufraffen und wundert sich darüber selbst ein bisschen:

Ich hatte keine Ahnung, woher meine Lethargie kam – und ich glaube, es interessierte mich auch nicht besonders -, doch in den ungefähr drei Wochen seit Schulende hatte ich offensichtlich die Gewohnheit angenommen, gar nichts zu tun, und es fiel mir schwer, von dieser Gewohnheit wieder loszukommen. Spätmorgens aufstehen, stundenlang zu Hause rumhängen, ein Weilchen in der Sonne sitzen … vielleicht ein Buch lesen, vielleicht auch nicht. Was spielte es für eine Rolle? So, wie ich es sah, würden die Tage und Nächte vergehen, egal ob ich irgendetwas tat oder nicht. Und genauso war es. Die Vormittage vergingen, die Nachmittage vergingen, die Abende wurden nach Sonnenuntergang zu Nächten … und ehe ich mich versah, lag ich wieder auf meinem Bett, starrte die Decke an und wunderte mich, wo der Tag geblieben war

Als er an einem Tag wieder auf seinem Bett vor sich hin starrt, klingelt das Telefon. Er hört, dass seine Mutter mit Nicole, einer alten Freundin, spricht und ihn schließlich zum Telefon ruft. Einen kurzen Moment überlegt er, den Ruf seiner Mutter einfach zu ignorieren, hält es dann aber für das kleinere Übel, doch zum Telefon zu gehen. Nicole lädt ihn zu einem letzten Treffen mit der alten Clique ein, die sich bereits seit einiger Zeit aus den Augen verloren hat. Erst soll es ein Treffen in einem früher einmal von ihnen selbst gebauten Unterschlupf im Gestrüpp geben, dann wollen alle auf die Kirmes in der Nähe gehen. Der Anruf löst bei Pete viele Erinnerungen aus:

In der Nacht konnte ich lange nicht einschlafen. Als ich im Bett lag und in die vom Mond erhellte Dunkelheit starrte, war mein Kopf derart voll mit Gedanken, dass ich sie geradezu aus meinem Schädel sickern spürte. Verschwitze Gedanken, klebrig und salzig, sie quollen mir aus Ohren, Mund und Haut

Er erinnert sich an Nicole und die ersten Annäherungsversuche. Er denkt auch an Raymond, den Sonderling, dessen zu Hause er von seinem Zimmer aus sehen kann. Zu ihm hat er nach wie vor immer wieder Kontakt, aber Raymond ist eigentlich überwiegend mit Black Rabbit, seinem schwarzen Kaninchen, beschäftigt.

Der gemeinsame Abend fängt normal an, sie trinken, kiffen und unterhalten sich ein bisschen zu fünft. Schließlich gehen sie getrennt auf die Kirmes. Auf der Suche nach Raymond begegnet Pete dort Stella Ross, die auch in seine Klasse gegangen ist und jetzt durch Auftritte in Werbe- und Musikvideos sowie erotische Fotos berühmt ist. Ein Kamerateam ist bei ihr, Bodyguards, ein regelrechtes Gefolge und Raymond. Pete mag Stella Ross nicht und ist sich sicher, dass sie Raymond nur benutzt, als sie ihn vor laufenden Kameras küsst.

Am nächsten Tag kommt in den Fernsehnachrichten die Meldung, dass Stalla Ross vermisst wird und die Polizei nach ihr sucht. Petes Vater ist Polizist und würde normalerweise in dem Fall ermitteln, ist aber schon nach kurzer Zeit suspendiert worden. Pete muss bei der Polizei aussagen. Er und die Anderen werden verdächtigt, mit dem Fall etwas zu tun zu haben. Zumal auch Raymond verschwunden bleibt.

Bereits der erste Roman von Kevin Brooks war ein überwältigender Erfolg. Mittlerweile ist er mehrfach mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet worden und bei seinen jungen Lesern in Deutschland so beliebt, dass ihm kürzlich der Lese-Hammer für iBoy verliehen worden ist. Black Rabbit Summer ist nicht nur ein psychologisch interessanter und spannender Thriller, der zeigt, wie schnell eine Auseinandersetzung in rohe Gewalt unschlagen kann. Spannend und mit viel sprachlichem Geschick zeigt Kevin Brooks seinen Lesern einige wohlgehütete Geheimnisse, Erpressungen, Psychoterror, fragwürdige mediale Berichterstattung, Drogenmissbrauch, Selbstmord. Zentral ist auch die schwierige Situation, in die Pete als Sohn eines Polizisten gerät, der neben den offiziellen Befragungen den Behörden immer wieder Tipps geben soll, sich damit überfordert fühlt und in Gewissenskonflikte gerät.

Tödliche Fortsetzung

Martin Kanther lebt allein in einer der besten Wohngegenden Frankfurts und ist Alkoholiker. Das führt in Tödliche Fortsetzung von Marc-Oliver Bischoff immer wieder zu Konflikten, auch mit den Nachbarn. Manchmal wird er mitten in der Nacht von der Polizei aufgegriffen und muss nach Hause gebracht werden. Er selbst hat daran für gewöhnlich keine Erinnerung:

Seine Nachbarin stand mit dem Baby auf dem Arm im Treppenhaus und hielt ihm einen Briefumschlag unter die Nase. >Herr Kanther, ich möchte nicht länger Ihren Ersatzschlüssel aufbewahren.< Kanther sah sie verdutzt an. >Wir sind aufgewacht, als die Polizei mit Ihnen im Schlepptau mitten in der Nacht geklingelt hat, weil Sie nicht in Ihre Wohnung reinkamen. Mein Mann muss morgens früh raus und der Kleine hat eine Stunde lang geschrien.< Sie stand unbeweglich wie eine Schaufensterpuppe vor ihm, den Umschlag in der ausgestreckten Hand. Kanther hatte die Befürchtung, dass sie gleich in Tränen ausbrach. Das fehlte ihm noch. >Tut mir Leid, kommt nicht wieder vor<, erwiderte er und schnappte den Umschlag

Zu Geld ist Martin Kanther vor einigen Jahren gekommen, als sein Kriminalroman-Debut Drachentöter die Bestseller-Listen erobert hat. Das Buch ist ein Skandal gewesen. Es handelt von Morden an Prostituierten, deren Beschreibung so realistisch ist, dass Ermittler Aufmerksam geworden sind und Parallelen zu Verbrechen erkannt haben, die kurz vor Erscheinen des Buchs in Frankfurt tatsächlich verübt worden sind. Martin Kanther wird als Verdächtiger verhaftet. Er gelangt in die Schlagzeilen und einige Medien verreissen Drachentöter. Letztlich gelingt es den Behörden aber nicht, Martin Kanther die Taten nachzuweisen. Ein Journalist erinnert sich:

Entweder haben sie ihm nicht die richtigen Fragen gestellt oder er hatte ein wasserdichtes Alibi, sonst hätten sei ihn nicht wieder frei gelassen. Aber die Sache bescherte ihm eine ungeheure Popularität

Durch den Skandal verdient Martin Kanther so viel Geld, dass er sich eine Wohnung in einer teuren Gegend leisten und seinen ausschweifenden Lebenswandel mit viel Alkohol finanzieren kann. Ein unerwarteter Glücksfall für ihn, Kind eines zu Tode gekommenen Bergmanns, dessen Mutter sich nach dem Unfall das Leben nahm. Die Erinnerung macht ihm bis in die Gegenwart zu schaffen. Und dann meldet sich ein alter Bekannter aus der Vergangenheit und versucht, ihn wieder in krumme Geschäfte hinein zu ziehen.

Tödliche Fortsetzung enthält einige sehr brutale Szenen beispielsweise beschreibt Marc-Oliver Bischoff den Mord an einer Prostituierten aus der Sicht ihrer sechsjährigen Tochter. Davon abgesehen ist das Buch spannend und enthält interessante Einblicke in das soziale Gefüge des Rotlichtmilieus.

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Syrische Videofilmer

Videokunst ist seit der Gründung des European Media Art Festival (emaf) vor 25 Jahren zentraler Schwerpunkt des Festivals. Anlässlich des Jubiläums haben in diesem Jahr namhafte Experten allgemeine Veränderungen in der Mediennutzung, deren Auswirkungen auf künstlerisches Arbeiten und die Bedeutung von Netzwerken diskutiert.

Charlotte Bank hat die Besonderheiten erörtert, mit denen syrische Filmemacher seit Beginn der Unruhen in Syrien zu kämpfen haben. Es sei generell schwierig geworden, sich ein objektives Bild von den Geschehnissen in Syrien zu machen, da das Regime seit Ausbruch der Proteste keine ausländischen Journalisten mehr in das Land lasse. YouTube habe sich als Informations-Plattform etabliert, da es häufig keinen anderen Weg gebe, sich der Öffentlichkeit mitzuteilen oder an Informationen über die Situation im eigenen Land zu kommen. Es gebe viele Online-Video-Aktivisten, die die Ereignisse in ihrer Nähe dokumentierten und im Internet veröffentlichten. Viele von ihnen seien keine professionellen Journalisten, Filmemacher, Künstler oder Intellektuelle.

Überhaupt seien syrische Intellektuelle nicht die treibende Kraft der Protestbewegung gewesen. Auch vor Beginn der Unruhen sei eine oppositionelle Haltung zum Regime nicht gut aufgenommen worden. Syrische Künstler seien durch die Zensur gezwungen worden, eine komplexe Sprache aus Metaphern und Symbolen zu entwickeln. Manchmal könne man den Eindruck bekommen, dass Zensur fast ein Geschenk sein könne, da ohne diesen Druck die Ausdrucksformen nicht so vielfältig geworden wären.

Im April 2011 hätten syrische Filmemacher dennoch eine Solidaritätserklärung mit den Protestierenden verfasst und zur Unterstützung für die Regimegegner aufgerufen. Es habe danach noch einige Zeit gebraucht, bis die ersten Filme von syrischen Künstlern zur Lage in Syrien veröffentlicht worden seien. Das hänge damit zusammen, dass die syrische Kunstszene nicht besonders etabliert gewesen sei und dass die syrischen Filmemacher nicht vorschnell hätten reagieren wollen.

Um Probleme jetzt offen und direkt ansprechen zu können, gebe es sowohl für Künstler als auch für Nicht-Professionelle in Syrien die Notwendigkeit, anonym zu arbeiten und publizieren. Das Regime gehe mittlerweile gegen jeden vor, der eine Kamera habe und betrachte sie als einen der schlimmsten Feinde. Wieder bringe die besondere Situation der Videofilmer eine bestimmte Ästhetik hervor. Da syrische Videofilmer schnell arbeiten müssten, seien die Filme häufig kurz und auf Wesentliches reduziert. Außerdem sei alles möglichst vage gehalten, Personen und Gegenden meist nicht genau zu erkennen. Jeder habe eigene Konzepte, wie er sich, seine Familie und die Menschen in seiner Umgebung schütze. Zwei Beispiele seien der Film The Sun’s Incubator des syrischen Künstlers Ammar al-Beik, der auf der Biennale von Venedig gezeigt worden ist, und der anonym veröffentlichte nicht-professionelle Film Smuggling 23 Minutes of Revolution.

Der kleine König von Bombay

Zu Anfang des Romans Der kleine König von Bombay von Chandrahas Choudhoury beschließt Arzee, weniger rücksichtsvoll, schüchtern oder dumm zu sein und alles offensiver anzugehen:

Früher war er zu berechenbar gewesen, zu unterwürfig, eine leichte Beute. Jeder Tag auf dieser Welt war ein Kampf gegen die Macht und den Willen zahlloser Kräfte, warum also sollte er nicht nach Belieben das Gleis, die Richtung wechseln? Ein Mann konnte nicht einfach so sein, wie er war, wie er gern wollte – diese Welt war kein Ort für Gefühle! Vielmehr musst er seine Lage erfassen und sich dann mit ihr auseinandersetzen, sich behaupten – auch Pflanzen konnten schließlich nur wachsen, wenn sie sich der Sonne zuneigten

Arzee ist seit seiner Jugend mit Leidenschaft Filmvorführer im Noor, einem jahrzehntealten Kino in Bombay, in dem ausschließlich alte Bollywood-Filme gezeigt werden. Jetzt hat er erfahren, dass der leitende Filmvorführer des Noor bald in Rente gehen wird und rechnet damit, dass er dann dessen Posten einnehmen kann. Er hofft sich am Ziel fast all seiner Wünsche und Träume. Das Noor ist für Arzee nicht einfach nur ein Arbeitsplatz, sondern ein zu Hause, wo er sich wohl fühlt und dessen Atmosphäre er bestens kennt:

Auch nach all den Jahren dauerte es einen Moment, bis Arzee sich an die immense Noor’sche Düsternis, den ganz eigenen Noor’schen Geruch gewöhnt hatte. Das Noor war eine dunkle Höhle, die eine zweite in sich barg: Anders als in anderen Kinos ließ man die Welt hier nicht in dem Moment hinter sich, wo man den Zuschauerraum betrat, sondern bereits wenn man den Fuß über die Schwelle des Kinos setzte. Die Luft drinnen war drückend und abgestanden, als wäre sie an einem uranfänglichen Abend eingelassen und nie wieder herausgelassen worden, und das muffige Halbdunkel in Foyer und Korridoren bereitete die Gäste auf die stickige Finsternis in dem großen Saal vor, aus dem jetzt, dumpf und verzerrt, die Klänge des dramatischen Höhepunkts von Saathi drangen

Arzee hofft, dass seine Beförderung ihn außerdem endlich in die Position versetzen wird, zu heiraten. Auch in der Liebe hat es Arzee bis jetzt nicht leicht gehabt. Seiner Meinung nach liegt es daran, dass er unterdurchschnittlich groß und damit eigentlich ein Zwerg ist. Vielversprechend ist, dass seine Mutter unermüdlich nach einer passenden Frau für ihn sucht. Doch sie hat ihn mit genauso viel Elan sein Leben lang  körperlich groß und stark machen wollen und Arzee deswegen bleibt skeptisch.

Und tatsächlich ist er wieder einmal noch nicht am Ziel. Deepak vom Syndikat wird richtig ungemütlich. Er stellt Arzee nach und will dessen Spielschulden eintreiben. Das Syndikat zwingt Arzee schließlich demütigende, aber immerhin legale, Arbeiten auf. Außerdem sieht es zwischenzeitlich so aus, als ob das Noor schließen müsste und er seinen Arbeitsplatz verliert. Doch dann begegnet er Monique, der Starfriseurin. Sie verlieben sich ineinander und alles ist nicht mehr so bedrückend. Die Romanze dauert mehrere Wochen, bis plötzlich Moniques Vater auftaucht.

Chandrahas Choudhury zeichnet in Der kleine König von Bombay ein mitreißendes Bild vom alltäglichen Überlebenskampf in der Millionenmetropole Bombay, von gesellschaftlichen und religiösen Konflikten, Geldnot, Einsamkeit und Hoffnung.

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